Am Abend werden noch einmal 1000 Menschen erwartet. Am Vortag waren es 400. Sie sind bis Libyen gekommen oder bis Algerien und wollen jetzt nur eins: zurück in ihre Heimat. Es ist viel los im Aufnahmezentrum am Rande der Wüstenstadt Agadez. Das Camp ist an diesem staubigen Nachmittag überfüllt. In den beiden offenen Hallen, die zwar vor der Sonne, nicht aber vor den 45 Grad Hitze schützen, lümmeln junge Männer herum. Sie dösen auf fleckigen Matratzen oder dem blanken Fliesenboden, starren an die Wellblechdecke, langweilen sich. Frauen sind keine zu sehen.
Sonny Boima spielt mit einem Freund Dame. Auf einem abgegriffenen Brett schieben die beiden ein paar selbstgeschnitzte Spielsteine hin und her. Was sollen sie auch sonst tun? „Wir müssen warten“, sagt der 28-Jährige aus Sierra Leone. Seit zwei Wochen schon. Warten auf die Ausreisepapiere ihrer Botschaft. Denn so etwas Wertvolles wie einen Reisepass, sagt Boima, hat er noch nie besessen.
Im Willkommens-Zentrum, wie die Internationale Organisation für Migration (IOM) das Übergangslager in Agadez nennt, liegen Hoffnung und Verzweiflung nah beieinander. 80 Prozent aller Migranten, die aus Afrika über Libyen und das Mittelmeer nach Europa wollen, schlagen sich quer durch die Sahara. Was nicht heißt, dass alle, die in Afrika auf der Flucht sind, dorthin wollen. Die allermeisten nämlich bleiben in der Region: in den Nachbarländern.
Und Agadez, die einst stolze Tourismus- und Handelsmetropole der Tuareg, ist der Kreuzungspunkt aller Fluchtrouten – der Schicksalsort für die EU. Hier treffen die, die ihre Zukunft in Italien, Frankreich oder Deutschland suchen, auf die enttäuschten Rückkehrer aus Nigeria, Mali, Senegal, der Elfenbeinküste oder eben Sierra Leone.
Gerd Müller (CSU), der Bundesentwicklungsminister, ist nach Niger gereist, um sich vor Ort ein Bild von der Lage im IOM-Camp zu machen, in das Europa so große Hoffnungen setzt. „Wir müssen die Fluchtursachen bekämpfen“, wird er während seiner Afrika-Tour mantraartig wiederholen. Und dass die jungen Menschen in ihrer Heimat eine Perspektive brauchen, eine Ausbildung, einen Job – weil sie sich sonst auf den Weg machen.
Müller trifft in den fünf Tagen zwei Staatspräsidenten, verspricht drei Fußballplätze und – aus dem größten Etat, den das Bundesentwicklungsministerium je hatte – mehr Hilfe für Ausbildungs- und Infrastrukturprojekte in Senegal und Niger. Er bleibt mit einem Bus jenseits von Afrika im Busch liegen, bekommt ein Pferd geschenkt, das jetzt im Stall des Sultans von Agadez steht, und ermahnt den für die Verpflegung zuständigen Hauptfeldwebel der Flugbereitschaft, die den Minister und seine kleine Delegation durch Afrika fliegt, dass aus Gründen der Nachhaltigkeit doch bitte keine Plastikflaschen mehr an Bord der Global 5000 sollen.
Der 60-Jährige erzählt, wie sehr das Amt des Entwicklungsministers sein Denken verändert hat. Und dass er zu diesem afrikanischen Kontinent, auf dem so unglaublich viel vorangeht und wo sein Handy inzwischen in den meisten Ländern besser funktioniert als daheim im Allgäu, in den vergangenen drei Jahren eine enge emotionale Beziehung aufgebaut hat.
Umso mehr ärgert ihn, dass die Flüchtlingsdebatte in Deutschland ausschließlich aus einer europäischen Binnensicht heraus geführt wird. Es ärgert ihn das Geschrei nach Abschottung und nach Rücknahmeabkommen. Und dass Europa die afrikanischen Länder ausbeutet, statt die Staaten durch faire Preise und wirtschaftliche Partnerschaften an der Wertschöpfung teilhaben zu lassen.
Beim Empfang des deutschen Botschafters in Nigers Hauptstadt Niamey zitiert er dann auch den legendären und gerade in seiner Partei umstrittenen Satz der Kanzlerin: „Wir können es schaffen.“ Nämlich, dass die junge Generation in Afrika eine Zukunft hat. Aber wie geht das, Fluchtursachen bekämpfen? Gerade in einem Land wie Niger, dem ärmsten der Welt, das schon heute seine 20 Millionen Einwohner nicht ernähren kann und dessen Bevölkerung sich bis 2050 spektakulär verdoppeln wird? Aus religiösen und traditionellen Gründen steigt die Kinderzahl in dem überwiegend muslimischen Land, in dem auch die Polygamie zunimmt, immer weiter an. Elf bis zwölf Kinder pro Familie sind die Idealvorstellung. Und wer es sich leisten kann, leistet sich eben auch mehrere Frauen.
Was also tun? Hohe Zäune rund um Europa ziehen? Oder Camps in der Sahara einrichten, in die man die Migranten einsperrt, um sie dann direkt in ihre Heimatländer zurückzuschicken, wie es auch Parteikollegen von Minister Müller fordern? „Das funktioniert sicher nicht“, sagt Marina Schramm, die IOM-Koordinatorin in Niger. „Wir halten niemanden auf, der weg will. Dafür gibt es keinerlei rechtliche Grundlage.“ Die 35-jährige Deutsche und ihr Team – inzwischen 120 Leute und damit viermal so viele wie noch vor einem Jahr – verstehen sich als Berater, Aufklärer, Seelsorger und Zuhörer. Die Migrationsorganisation hat vier Zentren im Land aufgebaut, in Agadez steht für 1000 Flüchtlinge das größte.
Hier besorgen die Helfer denen, die heim wollen, Reisedokumente und Bustickets. Dafür müssen sie für jeden einzelnen Flüchtling einen Brief an die jeweilige Botschaft schreiben, sagt Schramm – ein ebenso mühsames wie langsames Geschäft. Im Camp bekommen die Migranten Essen, und aus dem einzigen Wasserrohr, das im Hof aus dem Sand ragt, sprudelt manchmal auch Wasser. Es gibt einen Arzt und für die, die sich fortbilden wollen, einen Crashkurs in Betriebswirtschaft, damit sie sich daheim ein kleines Geschäft aufbauen können.
Die, die weiterziehen wollen nach Europa, bekommen die Geschichten erzählt von denen, die es nicht geschafft haben. „Denen glauben sie viel eher als uns Weißen“, sagt Marina Schramm. Sonny Boima zum Beispiel, der junge Mann aus Sierra Leone, wollte eigentlich nach Italien. Weil dort ein Freund von ihm schon untergekommen ist.
Zwei Monate dauert die Reise, die für Boima in Libyen endet. Die Polizei nimmt ihn fest, irgendwann nachts auf einer Landstraße Richtung Tripolis. Weil er kein Geld hat, um sich freizukaufen, landet er in einem dunklen Kellerverlies. So wie die anderen 40 Männer auch, mit denen er sich die Ladefläche des Pritschenwagens geteilt hat. Der sollte sie an die Küste bringen und zu einem Boot übers Mittelmeer. Die meisten seiner Reisegefährten hat Boima nie wieder gesehen, sagt er leise. Und dass er nur deshalb noch lebt, weil seine Familie noch einmal zusammengelegt hat, um den Erpressern Geld zu überweisen.
Es werden immer mehr dieser grausamen Geschichten, die Marina Schramm und ihre Kollegen erzählt bekommen. Weil immer mehr Afrikaner gebrochen und traumatisiert aus Libyen zurückkehren, wo Chaos und Anarchie herrschen. 9000 Rückkehrer haben die IOM-Zentren in diesem Jahr bis Ende Juli schon registriert. Im gesamten Jahr 2015 waren es 7000. „Jeder Flüchtling ist unterwegs mindestens einmal Opfer von Ausbeutung geworden“, sagt Marina Schramm. Sie werden misshandelt, gefoltert, als Geiseln genommen, ausgeraubt. Sie fallen von den Ladeflächen und verbrennen auf den Benzintanks, auf denen sie zusammengepfercht sitzen und die während der Fahrt zu heiß werden. Schramm berichtet von jungen Männern, die von Kugeln durchsiebt sind oder denen mit dem Hammer die Knöchel zertrümmert worden sind. Und von anderen, die tagelang durch die Wüste gelaufen sind und so ausgehungert und ausgedörrt an ihr Tor klopfen, dass sie es nicht überleben.
„Wenn man in die Gesichter schaut“, sagt Gerd Müller bei seinem Besuch, „dann sieht man, was Hoffnungslosigkeit bedeutet.“ Die jungen Männer wissen nicht, dass sie als Wirtschaftsflüchtlinge keine Chance auf Asyl haben. Und welche Verbrecher ihnen unterwegs begegnen. Marina Schramm baut darauf, dass immer mehr von ihnen die Zukunft in ihrer Heimat sehen – wenn die Burschen ihren Brüdern und Freunden im Dorf erzählen, was ihnen unterwegs passiert ist. Sie baut darauf, dass es künftig viele abschrecken wird. So, wie sie es im Camp erlebt. Schramm schätzt, dass etwa die Hälfte der Migranten umkehrt, wenn sie aufgeklärt werden. Doch bisher ist das IOM-Zentrum vor allem Anlaufstelle für Rückkehrer. Vor der gefährlichen Weiterfahrt konnte Schramm bisher nur 300 beraten.
Dass man die Route durch Westafrika durch eine konsequente Bekämpfung der Schleuserkriminalität trockenlegen kann, glaubt Schramm nicht. Auch wenn der Staatspräsident des Niger, Mahamadou Issoufou, gerade ein Gesetz dafür erlassen hat. Die Region um Agadez bis hinauf zur libyschen Grenze ist so groß wie Frankreich, beliebig viele Routen führen gen Norden. Notfalls auch abseits befestigter Pisten. Wer soll das kontrollieren?
Es sind einfach zu viele Schleuser, sagt Schramm, die Entwicklungshelferin. „Was will man ihnen vorwerfen?“ Die meisten hätten früher Waren und Touristen transportiert – und jetzt eben Flüchtlinge. 12 000 Euro verdient so ein Unternehmer im Monat mit seinen Touren durch die Wüste, sagt Marina Schramm. Das ist ein gutes, ein blühendes Geschäft. Und das in einer Gegend, in der es nichts gibt außer dem trockenen Wüstenboden, der dieselbe graubraune Farbe hat wie die paar dürren Büsche, die dort wachsen, und die urigen Lehmhäuser, die Unesco-Weltkulturerbe sind.
Früher, als die Rallye Paris-Dakar noch durch die Stadt führte, war Agadez ein Touristenort. 2009 wurde das Rennen aus Sicherheitsgründen nach Südamerika verlegt. Seither haben sich die Hotels, die Supermärkte und eben die Transporteure auf das Geschäft mit den Flüchtlingen verlegt – sie sind der wichtigste Wirtschaftsfaktor in der Stadt der Tuareg. Das sieht man auch an den neun Geldtransfer-Büros, an die die Familien der Migranten die nächste Rate für die Weiterreise überweisen können. Vor einem Jahr noch gab es kein einziges in Agadez.
Sonny Boima will so schnell wie möglich weg aus der Wüstenstadt, heim nach Sierra Leone. Ob er es noch einmal versuchen wird, in Richtung Europa durchzukommen? Boima schüttelt entschieden den Kopf: „Ganz sicher nicht. Ich bin einfach nur froh, dass ich noch lebe.“ Und: „So schlimm, wie es unterwegs war“, sagt er, „kann es in Sierra Leone niemals sein.“