Es gibt Bücher über die Erfahrung der Trauer, die ihr Thema erst einmal umkreisen – wie ein Flugzeug, das lange Warteschleifen fliegt. Und es gibt solche, die ihr Ziel direkt ansteuern. Zu ihnen gehören die unter dem Titel „Über die Trauer“ veröffentlichten Notizen von C. S. Lewis. Das Buch beginnt mit folgenden Sätzen: „Niemand hat mir je gesagt, dass das Gefühl der Trauer so sehr dem Gefühl der Angst gleicht. Ich fürchte mich nicht, aber die Empfindung gleicht der Furcht. Das gleiche Flattern im Magen, die gleiche Unrast.“ Lewis schreibt weiter: „Zwischen mir und der Welt steht eine unsichtbare Wand. Es fällt mir schwer, zu verstehen, was die Leute sagen; oder vielleicht, es verstehen zu wollen. Es ist so belanglos. Und doch will ich Menschen um mich haben.“
Lewis‘ Buch „A Grief Observed“, auf deutsch unter dem Titel „Über die Trauer“ (Insel Verlag) erschienen, hat einen so nüchternen Titel, dass man meinen könnte, es sei eine abstrakte Abhandlung. Das ist es aber nicht, ganz im Gegenteil. Es ist ein sehr persönlicher Erfahrungsbericht, den Lewis nach dem Tod seiner Frau geschrieben hat. Er schildert darin seine Verzweiflung, seine Ratlosigkeit, seine Erfahrungen mit falschen Vertröstungen, seine Hilflosigkeit und sein Erschrecken über das Unbegreifliche.
Es ist eines der präzisesten und aufrichtigsten Dokumente über den tiefen Schmerz des Verlusts. Vielleicht das beste und eindringlichste überhaupt.
C. S. Lewis wurde 1898 im nordirischen Belfast geboren und starb 1963 in Oxford. Er lehrte als Professor für englische Literatur in Oxford und Cambridge. Neben literaturhistorischen veröffentlichte er auch religiöse Schriften wie etwa „Pardon, ich bin Christ“, in denen er seinen Glauben gegen Skeptiker, Agnostiker und Atheisten verteidigte. Berühmt wurde er durch eine Serie von Kinderbüchern, die damals so populär waren wie ein halbes Jahrhundert später die Geschichten von Harry Potter: die Fantasy-Saga „Die Chroniken von Narnia“.
Mit dem Tod machte Lewis sehr früh Bekanntschaft: Seine Mutter starb an Krebs, als er gerade neun Jahre alt war. Seine unbeschwerte, aufs Leben vertrauende Kindheit wurde durch diesen Tod abrupt beendet. Lewis schrieb später über diese traumatische Erfahrung: „Mit dem Tod meiner Mutter verschwand alles gefestigte Glück, alles Ruhige und Verlässliche aus meinem Leben.
“ Im selben Jahr starben auch sein Großvater und sein Onkel; Lewis' Vater verfiel in eine Depression und schickte seinen Sohn in ein Internat nach England.
Lewis lernte seine Frau, die amerikanische Schriftstellerin Helen Joy Davidman, erst spät kennen. Sie heirateten 1956. Kurz darauf erkrankte sie an Krebs. Nach einer Behandlung erholte sie sich, beiden blieben einige glückliche Jahre mit Reisen nach Irland, Griechenland und Italien. Aber die Krankheit kehrte zurück. Helen Joy Davidman starb im Juli 1960. Lewis' Aufzeichnungen über seine Trauer entstanden im ersten halben Jahr nach ihrem Tod.
Mit seinem Buch wollte Lewis nicht belehren, er wollte es auch nicht als Ratgeber für andere verstanden wissen. Die Notizen waren ursprünglich nur für ihn selbst bestimmt und hatten nur einen Zweck: Lewis schrieb sich nach dem Tod seiner Frau den Schmerz von der Seele, um nicht an sich und der Welt verrückt zu werden. Die 1961 erschienenen Aufzeichnungen verstand er als „Waffe gegen einen völligen Zusammenbruch“. Die Erstausgabe veröffentlichte er – wohl aus Selbstschutz – unter einem Pseudonym. Erst nach seinem Tod erschien „A Grief Observed“ 1964 unter dem Namen des Verfassers.
„Über die Trauer“ wurde bis heute immer wieder neu aufgelegt, die Geschichte über Liebe und Tod 1993 von Richard Attenborough unter dem Titel „Shadowlands“ mit Anthony Hopkins in der Hauptrolle verfilmt.
Die Trauer kommt über Lewis wie ein plötzlicher Sturm, und er weiß nicht, wo er Schutz finden könnte. Lewis erkennt sich selbst nicht mehr wieder. Die Trauer nach dem Tod seiner Frau hat alles verändert. Das ganze Leben, seine Wahrnehmung der Außenwelt, sind von Grund auf anders. Was früher Bedeutung hatte, hat jetzt keine mehr. Wo einst Wege waren, sind jetzt Sackgassen. Über allem liegt ein Schatten. „Ich höre eine Uhr schlagen, und irgendetwas, was dem Klang bisher immer eigen war, fehlt. Was ist los mit der Welt, was macht sie so flach, so schäbig und so zerschlissen? Dann fällt es mir ein“, schreibt Lewis. Im Schmerz gefangen, wagt er den Blick in die Zukunft und schreibt: „Die Qualen, die wilden Augenblicke um Mitternacht, müssen gemäß dem Gang der Natur abflauen. Was aber folgt? Einfach diese Apathie, diese fühllose Stumpfheit? Wird eine Zeit kommen, wo ich gar nicht mehr frage, warum die Welt einer ärmlichen Straße gleicht, weil ich das Elend als normal hinnehme?“
Wer trauert, kehrt der Welt innerlich den Rücken. Angesichts des Todes eines geliebten Menschen wird oft fast alles andere bedeutungslos. Lewis sucht seine Frau, aber er kann sie nicht finden. Er fragt sich: Wo ist sie jetzt? „Freundliche Menschen sagen mir: Sie ist bei Gott. In einem bestimmten Sinn ist das allerdings sicher. Wie Gott ist sie mir unbegreiflich und unvorstellbar“, schreibt Lewis. Den Hinweis, dass die Toten in unserem Gedächtnis weiterleben, weist er ärgerlich zurück: „Leben? Gerade das wird sie nicht!“ Als fühlender Mensch ist Lewis tief verwundet, als denkender und handelnder Mensch hat er die Orientierung verloren. Ihm wird bewusst, wie sehr seine Gedanken, Gefühle und Handlungen seine Frau im Blick hatten. Nun sind sie ihres Zieles beraubt. Helens Abwesenheit überschattet alles. Seinen Körper, der ihre Nähe und Berührungen gewohnt war, empfindet Lewis nur noch als verlassenes und leer stehendes Haus.
Lewis erfährt die doppelte Einsamkeit von Trauernden. Er spürt, dass er in der Öffentlichkeit Verlegenheit auslöst, vielen seiner Mitmenschen fast schon als Zumutung erscheint: „Sooft ich einem glücklich verheirateten Paar begegne, kann ich spüren, wie sie denken: Einem von uns beiden geht es eines Tages wie ihm.“ Viele überlegen, ob sie „es" erwähnen sollen oder nicht. In seiner Verbitterung denkt Lewis darüber nach, ob es nicht besser wäre, Trauernde wie Aussätzige in besonderen Siedlungen zu isolieren.
Lewis geht mit der Welt und sich selbst ins Gericht. Er schreibt: „Aus der Art, wie ich rede, muss jeder den Eindruck bekommen, H.s Tod sei hauptsächlich wegen seiner Wirkung auf mich von Belang. Sie selbst scheint ganz in Vergessenheit zu geraten.“ Er kritisiert sein Selbstmitleid und fragt sich: Was würde sie von ihm erwarten? Was würde sie sich wünschen? Gewiss nicht, dass er im Selbstmitleid versinkt, sich nur noch mit seiner Trauer beschäftigt und sie auf diese Weise vertieft.
Lewis stellt eine Tendenz hierzu bei sich fest, die er selbstkritisch bloßlegt: „Wir wollen uns beweisen, dass wir Liebende großen Stils sind, tragische Helden, dass wir im riesigen Heer der Trauernden nicht zum einfachen Fußvolk gehören“, schreibt er.
Lewis will nicht diesem Ritual des Kummers verfallen, zu dem, wie er schreibt, neben dem Gang zum Friedhof auch gehöre, die Kleider von Toten aufzubewahren und in ihrem Zimmer nichts zu verändern. Er wehrt sich gegen diese Art von „Mumifizierung“, weil sie die Toten noch viel toter mache, erinnert sich stattdessen an das lebendige Wesen seiner Frau und beschließt, sich ihr so oft wie möglich in froher Stimmung zuzuwenden. „Ein bewundernswürdiges Programm“, schreibt er, nur leider nicht durchführbar, da die harte Realität seine guten Vorsätze durchkreuzt: „Heute Abend ist wieder die ganze Hölle frischer Trauer los: die rasenden Worte, der bittere Groll, das Flattern im Magen, der Alptraum vom Nichts, das Suhlen in Tränen.“
Der Weg der Trauer folgt keiner geraden Linie. Lewis fragt sich, ob er sich im Kreis bewegt oder ob es eine Spirale ist, die ihn weiterführt, irgendwohin. Dann kommt ihm die Trauer plötzlich wie ein langes, gewundenes Tal vor, in dem jede Biegung des Wegs eine ihm vollkommen neue Landschaft erschließt: „Manchmal steht man vor genau der gleichen Landschaft, die man kilometerweit hinter sich glaubte. Dann fragt man sich, ob das Tal nicht ein Graben sei, der im Kreis führt.“ Die Verzweiflung ist nicht permanent da. Doch sie kommt immer wieder. Lewis vergleicht die Trauer mit einem „kreisenden Bomber, der seine Bomben abwirft, sooft er sein Angriffsziel überfliegt“.
Es sind sprachgewaltige Bilder, mit denen Lewis seinen Schmerz, die Empfindung eines Trauernden, in Worte kleidet. Auch mit seiner Wut auf Gott setzt er sich als überzeugter Christ auseinander und schreibt: „Wenn Gottes Güte zulässt, uns wehzutun, dann ist entweder Gott nicht gut, oder es gibt keinen Gott. Denn im einzigen Leben, das uns bekannt ist, übertrifft sein Wehtun unsere schlimmsten Befürchtungen und alles Vorstellbare.
“ Der Tod eines geliebten Menschen stürzt Hinterbliebene nicht nur in Trauer. Manchmal stellt er auch das eigene Leben, das eigene Denken infrage. So erging es auch Lewis. Sein Verlust ließ ihn an seinem Glauben, an der Existenz eines guten Gottes zweifeln. Er unterstellt Gott sogar, Freude am Leid seiner Geschöpfe zu empfinden, oder zumindest, nicht an ihrem Leiden interessiert zu sein: „Ich komme mir vor, als ob ich an Gottes Haustür klopfe und schreie und bettle um Trost – und man schlägt mir die Tür vor der Nase zu.“
Von Gott eine Antwort auf die Frage nach seinem Leid fordernd, sieht er sich nur mit Schweigen konfrontiert. Diese Wahrnehmung ändert sich später. Gott antwortet nicht. Als gläubiger Christ glaubt Lewis aber so etwas wie einen stummen Blick Gottes wahrzunehmen, der voller Mitgefühl auf ihm ruht. Er deutet dieses Schweigen nicht als Verweigerung einer Antwort, sondern als Zurückstellung der Frage – einer Frage, auf die es keine Antwort geben kann, weil sie falsch gestellt ist. „Vermag denn ein Sterblicher Fragen zu stellen, die Gott nicht beantworten kann? Sehr leicht“, schreibt Lewis. „Auf alle sinnlosen Fragen gibt es keine Antwort.
Wie viele Stunden hat ein Kilometer? Ist Gelb rund oder viereckig? Die Hälfte aller Fragen, die wir stellen – die Hälfte unserer großen theologischen und metaphysischen Probleme –, ist wahrscheinlich von dieser Art.“ Der Schmerz der Trauer ist wild und verstörend – aber er wandelt sich mit der Zeit. Irgendwann ist Lewis – diese Entwicklung zeigt sein Buch auf – wieder bereit und fähig, Licht zu erkennen, wo vorher nur Finsternis war. Er findet zu Gott zurück und seinen auf die Probe gestellten Glauben wieder. Und er findet anstelle der permanenten Klage eine neue Form, mit seiner Frau zu kommunizieren, ihre Nähe zu spüren, oft sogar ein vollkommenes und frohes Einvernehmen mit ihr, und fragt sich: „Könnte dieses Einvernehmen die Liebe selbst sein?“
„Über die Trauer“ ist kein Trostbuch im herkömmlichen Sinn. Vielleicht vermag es gerade deshalb, Trost zu spenden. Weil es in seiner schonungslosen Offenheit vielen Trauernden aus der Seele spricht. Weil sie es in der Gewissheit lesen können, nicht alleine durch diese Erfahrung gehen zu müssen. Und weil es glaubhaft zum Ausdruck bringt, dass sich der Schmerz mit der Zeit wandelt und dass Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung nicht von Dauer sind.
Lesen Sie nächsten Samstag im Magazin: „Die Wundermacht des Wortes“ über Isabel Allendes Buch „Paula“.
Der Trauer Worte geben
Buch: „Der Trauer Worte geben. Über den Tod und das Abschiednehmen“, Main-Post, Würzburg 2015, 224 Seiten, 9,99 Euro. Vortrag: Sein Buch „Der Trauer Worte geben“ stellt Herbert Scheuring in seinem Vortrag „Die Sprache der Trauer. Verlust als Thema in Selbsterfahrungsberichten und literarischen Werken“ vor (Eintritt 5 Euro). Der Vortrag findet am Donnerstag, 29. Oktober, um 19 Uhr in der Akademie für Palliativmedizin des Juliusspitals Würzburg (Juliuspromenade 19) statt. Anmeldung und Information: Tel. (09 31) 3 93-22 81 palliativakademie@juliusspital.de www.palliativakademie.de