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KONSTANZ
„Das ist die höchste Form der politischen Beleidigung“
Das Gespräch führte Johannes Bruggaier
 |  aktualisiert: 11.12.2019 18:46 Uhr

Die Nazi-Keule stirbt nicht aus: Aleida Assmann, Kulturwissenschaftlerin in Konstanz, erklärt, warum uns Vergleiche mit dem Dritten Reich immer noch so hart treffen

Frage: Frau Assmann, der türkische Präsident hat die deutsche Regierung angegriffen mit dem Satz „Eure Praktiken unterscheiden sich nicht von den früheren Nazi-Praktiken“. Welchen Knopf hat er da in unserem nationalen Selbstverständnis gedrückt?

Aleida Assmann: Der Knopf, den er da drückt, ist die höchste Form der möglichen politischen Beleidigung. Und zwar deshalb, weil sich unser Land alle Mühe gibt, sich vom Nazi-Regime zu unterscheiden. Speziell dafür wurde hier auch eine Erinnerungskultur des Trennungsstrichs aufgebaut.

Ein Trennungsstrich?

Assmann: Das ist das Gegenteil des viel zitierten Schlussstrichs. Ein Schlussstrich würde bedeuten, dass man von der Vergangenheit nichts mehr wissen will. Diese Haltung galt für die ersten 20 bis 30 Jahre der Nachkriegszeit. Unsere auf der Idee eines Trennungsstrichs basierende Erinnerungskultur funktioniert ganz anders. Sie sieht vor, dass wir uns auf eine dauerhafte Distanz zum Nazi-Regime begeben. Das bedeutet, dass wir uns diese Zeit ständig vergegenwärtigen, an sie erinnern und unseren Kindern in den Schulen erklären, was damals geschehen ist.

Gerade deshalb ist der Vorwurf, es gebe zwischen dem aktuellen Regierungshandeln und jenem der Nazizeit keinen Unterschied, so beleidigend.

Wie beurteilen Sie die Reaktion der Bundesregierung?

Assmann: Ich finde sie beeindruckend. Der Regierungssprecher hat ja erklärt, es handele sich bei dieser Aussage um eine Verharmlosung des NS-Regimes. Und das ist ein wunderbares Argument: Sollte das, was wir gegenwärtig tun, an Nazi-Praktiken erinnern, so könnten diese Nazi-Praktiken selbst nicht weiter schlimm gewesen sein. Weil sie das aber bekanntlich sehr wohl waren, ist Erdogans Aussage eben eine extreme Verharmlosung.

Gibt die Türkei gegenwärtig nicht selbst genügend Anlass, sich an die NS-Zeit erinnert zu fühlen?

Assmann: Oh ja. Das ist der zweite Punkt, der von einer besonderen Ironie gekennzeichnet ist. Erdogan bekommt in Deutschland ja tatsächlich keine freie Bahn. Er bekommt sie allerdings deshalb nicht, weil sich Demokratie wehrhaft zeigen muss. Die Ironie besteht nun darin, dass er seine Auftritte nutzen möchte, um für ein Präsidialsystem zu werben, das eine Abschaffung der Demokratie bedeutet. Es geht also buchstäblich um ein Ermächtigungsgesetz. Und damit befinden wir uns tatsächlich mitten in der Nazi-Zeit – mit dem Unterschied, dass der historische Vergleich jetzt eher auf seine Seite zutrifft als auf die deutsche.

Der Historiker Götz Aly fordert eine Historisierung der Nazizeit. Wenn es uns gelänge, eines Tages in einem ähnlich distanzierten Bewusstsein auf das Dritte Reich zu blicken wie etwa auf den 30-jährigen Krieg, bräuchten wir auf Nazi-Vergleiche wie jene von Herrn Erdogan auch nicht mehr so reflexhaft empört zu reagieren. Hat er Recht?

Assmann: Nein. Als Historiker historisiert er die Nazi-Zeit natürlich permanent. Für die deutsche Gesellschaft aber ist das nicht so leicht möglich. Unsere nationale Identität bildet sich ja aus Fragen wie: Über welche Werte definieren wir uns als Deutsche? Was sind für uns die wichtigen Bezugspunkte in der Vergangenheit? Was sind unsere Ziele für die Zukunft? Und unter diesen Vorzeichen kann man das Dritte Reich nun mal nicht als eine historische Episode unter vielen anderen begreifen. Ich nenne das eine normative Vergangenheit.

Was meinen Sie damit?

Assmann: Alle Nationen haben Perioden in ihrer Geschichte, von denen sie sagen, dass sie für ihre Identität wichtiger sind als andere Zeitabschnitte. Diese Perioden werden in die Gegenwart mit aufgenommen, indem sie an Schulen unterrichtet, mit Denkmälern symbolisiert und in öffentlichen Debatten thematisiert werden. Der von mir erwähnte Trennungsstrich bringt genau das zur Geltung: Wir können diese Periode unserer Geschichte nicht einfach hinter uns lassen, weil wir damit unsere Identität verleugnen würden. Götz Aly hat das gut gemeint, sein Ansatz ist aber kurzsichtig.

Ist unser Umgang mit dieser Periode aber nicht auch verlogen? Einerseits bauen wir Mahnmale und erinnern in Schulen an die historischen Hintergründe. Andererseits versuchen wir mit deutscher Gründlichkeit, tatsächliche Zeugnisse dieser Zeit aus dem öffentlichen Raum zu beseitigen. Universitäten entledigen sich fragwürdiger Namensgeber, Skulpturen von NS-affinen Bildhauern verschwinden aus Stadtparks: Ist das nicht ein Widerspruch in sich?

Assmann: Da bin ich ganz bei Ihnen. Für mich zeigt sich in dieser Gründlichkeit keine Auseinandersetzung mit Geschichte, sondern vielmehr deren Abschaffung.

Tabuisierung, Exorzismus und die Bereinigung von Geschichte helfen niemandem. Wenn die nachwachsenden Generationen gar keine sinnliche Möglichkeit mehr haben, diese Geschichte zu erfahren, dann ist sie weg. Ohne eine konkrete Anschauung von dieser Geschichte und eine Auseinandersetzung mit ihr können nachwachsende Generationen nicht politisch gebildet werden und eine Immunisierung gegen die nationalsozialistische Ideologie entwickeln.

Das heißt also, alles stehen lassen?

Assmann: Angenommen, die Konstanzer Markstätte hätte einmal Adolf-Hitler-Platz geheißen, so wäre eine Umbenennung selbstverständlich angebracht gewesen. Schließlich stünde ein solcher Name für eine Verehrung, die in einem demokratischen Staat unerträglich wäre. Im Unterschied dazu halte ich es aber für problematisch, unliebsame Spuren der Geschichte einfach zu beseitigen.

Warum?

Assmann: Der Schriftsteller George Orwell hat einmal gesagt, dass in einer Diktatur die Gegenwart über die Vergangenheit entscheidet. Anders formuliert: Ein totalitäres Regime sorgt dafür, dass seine Vergangenheit exakt dem entspricht, was die Gegenwart gerade braucht und gutheißt. In einer Demokratie dagegen achten wir die Geschichte gerade auch als eine Möglichkeit der Fremderfahrung. In der Auseinandersetzung mit ihr können wir lernen, dass es in unserem Land auch mal andere Zeiten gegeben hat. Dieses Spannungsfeld ist weg, wenn wir unsere Vergangenheit selbstgerecht so stilisieren, dass wir uns nur noch in dem spiegeln, was wir schon immer für richtig gehalten haben.

Und was bedeutet das nun für solche Denkmäler?

Assmann: Zwischen der Affirmation von historischen Zeugnissen einerseits und deren Beseitigung andererseits gibt es noch einen dritten Weg: die Historisierung – hier ist der Ansatz des von Ihnen erwähnten Historikers Götz Aly angebracht. Indem man ein Denkmal in einen neuen Kontext stellt, aber auch durch Erklärungen und Markierungen, deutet man es neu. Das scheint mir besser, als es aus der Gegenwart vollständig herausfallen zu lassen.

Zur Person

Aleida Assmann (69) ist Kulturwissenschaftlerin mit Forschungsschwerpunkt kulturelles Gedächtnis, Erinnerung und Vergessen. Sie promovierte in Anglistik und Ägyptologie und habilitierte sich an der Neuphilologischen Fakultät in Heidelberg. 1993 folgte sie einem Ruf auf den Lehrstuhl für Anglistik und Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz. 2001 wurde sie zum Fellow der Princeton University in New Jersey ernannt. Aleida Assmann ist verheiratet und hat fünf Kinder. SK/FOTO: dpa
 
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