In dem Augenblick, als alles vorbei ist, verliert selbst die sonst so nüchterne und kontrollierte Angela Merkel die Beherrschung und zeigt Gefühle. Mit Tränen in den Augen, so erzählen Teilnehmer der letzten Sondierungsrunde, habe sie im Kreis der Verhandlungsdelegationen von CDU und CSU auf die Entscheidung der FDP reagiert, die Verhandlungen für beendet zu erklären. Zu diesem Zeitpunkt ist es kurz vor Mitternacht, und das Ziel einer schwarz-gelb-grünen Jamaika-Koalition ist gescheitert. „Angela Merkel war berührt und tief bewegt“, sagt ein führender Unionspolitiker am Montag gegenüber dieser Redaktion. „Das ging nahe ans Herz.“
Den Beifall ihrer eigenen Parteifreunde, die ihr für den vierwöchigen Dauereinsatz in den Verhandlungen danken, nimmt sie mit einer Mischung aus Wehmut und Enttäuschung entgegen. Denn in diesem Moment ist klar: All ihre Bemühungen, politisches Neuland zu betreten und ein in der Geschichte der Bundesrepublik völlig neuartiges Bündnis aus Konservativen, Liberalen und Grünen zu schmieden, sind gescheitert. Acht Wochen nach der Bundestagswahl am 24. September steht die Kanzlerin, die seit der Konstituierung des neugewählten Bundestags nur noch geschäftsführend in Amt ist, wieder bei null – mit ungewissem Ausgang.
Das Rad dreht sich weiter
Am Montag, nach einigen Stunden Schlaf und einer kurzen Denkpause, hat Angela Merkel ihre Fassung wiedergewonnen. Für Trauerarbeit hat die CDU-Chefin und Bundeskanzlerin ohnehin keine Zeit, das Rad dreht sich weiter. Ein für den Mittag geplantes Treffen mit ihrem niederländischen Amtskollegen Mark Rutte wird kurzfristig abgesagt, denn der Bundespräsident hat gerufen. Um zwölf Uhr mittags eilt Merkel ins Schloss Bellevue, um dem Staatsoberhaupt aus erster Hand über das Scheitern der Sondierungen zu berichten und mit ihm den weiteren Verlauf zu besprechen.
Ein schwerer Gang für Angela Merkel. Sie kommt mit leeren Händen, zugleich liegt ihr weiteres politisches Schicksal in der Hand Frank-Walter Steinmeiers. Er allein entscheidet, wen er dem Bundestag als Kanzlerkandidaten vorschlägt und ob er nach einem dritten Wahlgang entweder eine Regierung ohne Mehrheit akzeptiert oder den Bundestag auflöst und Neuwahlen ansetzt. Eindringlich appelliert er mit ernster Miene an alle Parteien, sich in dieser Situation nicht zu verweigern. „Ich erwarte von allen Gesprächsbereitschaft, um eine Regierungsbildung in absehbarer Zeit möglich zu machen“, sagt der Präsident nach dem Gespräch mit der Kanzlerin.
Er werde daher in den kommenden Tagen mit den Vorsitzenden der Parteien und den anderen Verfassungsorganen Gespräche führen.
Die Möglichkeiten sind eingeschränkt
So lange nicht entschieden ist, wie es weitergeht, bleiben Angela Merkel und die bisherigen Minister von CDU, CSU und SPD geschäftsführend im Amt. Doch ihre Kompetenzen sind begrenzt, ihre Möglichkeiten eingeschränkt. Entsprechend groß ist die Enttäuschung in der Union über das Verhalten der anderen Parteien. „Gründe für das Scheitern von Jamaika gibt es etliche“, sagt der stellvertretende Unionsfraktionschef Georg Nüßlein gegenüber dieser Redaktion. „Etwa das unprofessionelle Verhandeln der Grünen mit unklaren Zuständigkeiten, immer neuen Vorschlägen und ständig wechselnden Partnern. Oder die Überlegung der FDP, die – frisch im Bundestag – nicht gleich in einem unsicheren Bündnis alle Wähler verprellen wollte.“ In der CDU wie der CSU gilt es als große Leistung der beiden Parteichefs Angela Merkel und Horst Seehofer, die Positionen der beiden Schwesterparteien geschlossen und entschlossen gegenüber den Liberalen wie den Grünen vertreten zu haben.
Den Vorwurf der Liberalen, Merkel habe das Scheitern von Jamaika zu verantworten, da es ihr in den vierwöchigen Verhandlungen zu keinem Zeitpunkt gelungen sei, eine gemeinsame tragfähige Grundlage für diese Koalition zu schaffen, weisen die Unionsgranden mit Entschiedenheit zurück. Die CDU-Chefin habe vielmehr „professionell“ verhandelt, habe stets auf die kleinen Parteien Rücksicht genommen, ohne die Interessen der Union aus dem Blick zu verlieren. „Es ist uns als CDU und CSU gelungen, bis zum Ende der Sondierungsgespräche die Geschlossenheit zu wahren und dabei unsere Kernanliegen nicht aus der Hand zu geben“, lobt Fraktionsvize Nüßlein die eigene Verhandlungsleitung.
Wer ist Schuld am Scheitern?
Wer also ist schuld am Scheitern? Am Montag ist das Schwarze-Peter-Spiel in vollem Gange. Sind‘s die Liberalen, wie es in Union und bei den Grünen heißt, die kurz vor Mitternacht einfach aufgestanden und gegangen sind?
Es ist fünf vor zwölf, als Christian Lindner vor der baden-württembergischen Landesvertretung seine Erklärung vorliest, die den Schlussstrich unter das Projekt Jamaika-Koalition zieht: „Es ist besser nicht zu regieren, als falsch zu regieren.“ Alles, was CDU, CSU, FDP und Grüne in harten, von lauten Nebengeräuschen begleiteten gut vierwöchigen Sondierungen besprochen haben, ist damit wertlos.
Dabei sollte der Sonntag endgültig den Durchbruch bringen. Und noch unmittelbar vor dem Auszug der FDP-Delegation, heißt es übereinstimmend von Teilnehmern von Union und Grünen, habe es aus ihrer Sicht keinerlei Anzeichen für ein Scheitern der Gespräche gegeben. Das selbst gesteckte Ziel, bis 18 Uhr alle Unstimmigkeiten auszuräumen, ist zwar längst um etliche Stunden überschritten. Doch im modernen Verhandlungssaal kursiert der Witz, dass ja nach Jamaika-Zeit verhandelt werde: Auf der fernen Karibikinsel sei es ja erst Nachmittag. Und als spät in der Nacht das Essen ausgeht, schickt Landwirtschaftsminister Christian Schmidt (CSU) seinen Fahrer zur nächsten Tankstelle, um Erdnüsse und Kartoffelchips zu besorgen. Ein Gesprächsteilnehmer beschreibt die Stimmung vor dem großen Knall als „gelöst, positiv und von einer gespannten Erwartung erfüllt“. Eine Einigung habe buchstäblich in der Luft gelegen.
Hauptaugenmerk auf Familiennachzug
In der späten Nacht zum Montag gilt es scheinbar nur noch, einen Kompromiss im ganz großen Reizthema der gesamten Sondierungsrunde festzuklopfen. Das Hauptaugenmerk der Verhandlungsführer richtet sich zum vermeintlich letzten Mal auf den Familiennachzug für Flüchtlinge mit eingeschränktem Schutzstatus. Nach der Devise „Nichts ist vereinbart, bis alles vereinbart ist“ hängt an diesem Thema das große Ganze – glauben zumindest CDU, CSU und Grüne. Alle anderen wichtigen offenen Fragen, heißt es aus den Reihen von Union und Ökopartei, sind entweder bereits gelöst oder stehen kurz davor. Beim Zankapfel Familiennachzug gibt es in der Nacht Bewegung. Weil sich gerade CSU und Grüne in dieser Frage in den vergangenen Wochen scheinbar unversöhnlich gegenüberstanden, kommt es zum Gespräch in kleiner Runde: Die Spitzen von Christsozialen und Grünen sollen unter Vermittlung von Kanzlerin Angela Merkel den lähmenden Streit endlich beilegen.
Ein Kompromiss zeichnet sich ab: Die Grünen akzeptieren den von der Union geforderten unverbindlichen Richtwert von nicht mehr als 200 000 Flüchtlingen pro Jahr. Der Familiennachzug für Flüchtlinge wird für ein weiteres Jahr ausgesetzt und ist dann im Rahmen des Richtwerts möglich. Jamaika scheint den Durchbruch geschafft zu haben. Doch dann geschieht das, was in der Union und bei den Grünen für Schock und Entsetzen sorgt: Noch bevor die FDP-Delegation über den neuen Sachstand informiert werden kann, verlässt sie die baden-württembergische Landesvertretung.
Unüberwindbarer Konflikt
Während fast alle Beobachter den Konflikt zwischen der CSU und den Grünen als wahrscheinlichste Bruchstelle des Jamaika-Experiments sahen, ist es die FDP, die die Träume von der bunten Koalition platzen lässt. Die Liberalen selbst machen dafür vor allem die Grünen verantwortlich. Der Konflikt mit der Ökopartei habe sich am Ende als unüberwindbar erwiesen.
Nicht nur, dass die FDP überraschend in der Frage des Familiennachzugs für Flüchtlinge mit eingeschränktem Schutzstatus auf die harte Linie der CSU eingeschwenkt ist. Der baden-württembergische Landesvorsitzende Michael Theurer, Mitglied des liberalen Sondierungsteams, spricht gegenüber dieser Redaktion von mehr als hundert Punkten, in denen es noch keine Einigung gegeben habe – trotz vierwöchigen Ringens. Mit den Grünen sei niemals eine Vertrauensbasis zustande gekommen. Am Sonntagmorgen habe ein Zeitungsinterview von Jürgen Trittin zusätzlich den Eindruck erweckt, es bestehe bei den Grünen keinerlei Respekt vor dem Verhandlungspartner FDP. Theurer widerspricht energisch „dem Eindruck, der jetzt verbreitet wird, dass die Sondierungsgespräche kurz vor dem Durchbruch standen. Das entspricht einfach nicht den Tatsachen“. Ob beim Abbau des Solidaritätszuschlags, in der Energiepolitik, bei der Bildung oder der Digitalisierung – von einem liberalen Aufbruch sei in den Sondierungsgesprächen nichts zu spüren gewesen. Dafür habe die FDP „bis zuletzt mit Herzblut gekämpft“.
Geplatzter Traum von Jamaika
Im Gegensatz dazu heißt es bei den Grünen, in den vorausgegangenen Tagen seien die Sondierungen längst zu echten Koalitionsverhandlungen geworden. In vielen Bereichen hätten sich die Ergebnisse fast unverändert in einen Koalitionsvertrag übernehmen lassen. Es herrscht der Eindruck, die FDP habe den Traum von Jamaika mit kaltem Kalkül platzen lassen: Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter sagt mit Blick auf die Liberalen: „Mit jeder weiteren Einigung wurde die Panik eher größer als geringer. Deshalb kann man durchaus den Verdacht haben, dass die weniger gestalten wollten, sondern mehr Sorge vor der Verantwortung hatten.“
Wie FDP-Chef Christian Lindner die Absage begründet
„Nach Wochen liegt heute unverändert ein Papier mit zahllosen Widersprüchen, offenen Fragen und Zielkonflikten vor. Und dort, wo es Übereinkünfte gibt, sind diese Übereinkünfte erkauft mit viel Geld der Bürger oder mit Formelkompromissen. (.
..) Am heutigen Tag wurde keine Bewegung, keine neue Bewegung, keine weitere Bewegung erreicht, sondern es wurden Rückschritte gemacht, weil auch erzielte Kompromisslinien noch einmal infrage gestellt worden sind. Es hat sich gezeigt, dass die vier Gesprächspartner keine gemeinsame Vorstellung von der Modernisierung unseres Landes und vor allen Dingen keine gemeinsame Vertrauensbasis entwickeln konnten. Eine Vertrauensbasis und eine gemeinsam geteilte Idee, sie wären aber die Voraussetzung für stabiles Regieren.
(...) Unser Einsatz für die Freiheit des Einzelnen in einer dynamischen Gesellschaft, die auf sich vertraut, die war nicht hinreichend repräsentiert in diesem Papier. (...). Wir werden unsere Wählerinnen und Wähler nicht im Stich lassen, indem wir eine Politik mittragen, von der wir im Kern nicht überzeugt sind. Es ist besser nicht zu regieren, als falsch zu regieren. Auf Wiedersehen.“ dpa/FOTO: afp