Es riecht frisch renoviert im Büro von Kurt Schrimm, dem Leiter der Zentralen Ermittlungsstelle für nationalsozialistische Verbrechen in Ludwigsburg bei Stuttgart. Der Fahnder hat noch einiges vor – auch wenn er Verbrechen auf der Spur ist, die schon 70 Jahre her sind. Die mutmaßlichen Täter sind Greise, wie die beiden Männer, deren Akten er kürzlich der Würzburger Staatsanwaltschaft schickte: Ein 92-Jähriger aus dem Raum Aschaffenburg und ein 89-Jähriger aus der Coburger Gegend sollen an Morden in Auschwitz beteiligt gewesen sein. Seit Monaten hatten die fünf Ludwigsburger Juristen und zwei Polizeifahnder gegen 50 Männer und Frauen wegen Beihilfe zum Mord vorermittelt, 30 Akten leiteten sie weiter an die zuständigen Staatsanwaltschaften. „Lange Zeit bin ich davon ausgegangen, dass ich der letzte Leiter der Stelle bin“, sagt der Oberstaatsanwalt. Nächstes Jahr geht er in den Ruhestand. Das Ende der „Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen“ ist das aber noch lange nicht.
Dabei sah es schon vor 13 Jahren so aus, als sei die Arbeit getan. Als Schrimm im Jahr 2000 Chef wurde, übernahm er heruntergekommene Räume. „Die Tapete hing von den Wänden.“ Die Beschäftigten erwarteten mit dem neuen Jahrtausend das Aus der Stelle. Doch es brachte die Neuorientierung. Schrimm ließ renovieren und Computer anschaffen und stellte die Arbeitsweise völlig um. Er und sein Team warteten nicht mehr auf den Anfangsverdacht durch Zeugenhinweise, denn das gab es kaum noch. Stattdessen gruben sie in den Archiven der Welt nach Informationen. „Ich gelte als der meistgereiste Staatsanwalt“, sagt Schrimm. Gezählt hat er die Dienstreisen nicht. „100 werden es schon sein.“ Wochenlang ist er unterwegs, um Akten zu durchsuchen, Zeugen zu vernehmen, Beweismaterial zu sichten. Zeitungsmeldungen enthalten Spuren. Entdeckungen wie die, dass Naziverbrecher mit Rot-Kreuz-Pässen nach Südamerika gereist waren, sind Anhaltspunkte für Recherchen. So setzt sich ein Puzzle zusammen. Mit viel Aufwand.
„Wenn bei meinen Vorträgen die Frage nach dem Sinn auftaucht, kann ich mich zurücklehnen“, sagt Schrimm. Dann bildeten sich sofort zwei Gruppen, die heftig diskutierten. Quer durch Generationen und Schichten seien die Menschen bei dem Thema gespalten. Er hat es für sich geklärt. „Die Verurteilungsmöglichkeiten tendieren gegen Null, aber für uns ist wichtig, dass Sachverhalte aufgeklärt werden.“ Er will wissen, was war und was ist.
Tief in die Rechtsphilosophie führe die Debatte, ob NS-Verbrechen heute noch geahndet werden sollten. Gegner argumentierten, Strafe dürfe nicht allein Vergeltung sein, sondern müsse in der Zukunft einen Nutzen für Täter und Gesellschaft haben. Das sei nicht gegeben. Es drohe keine Wiederholungsgefahr. Befürworter sehen die Sühne im Vordergrund. Und das ist Schrimms Ansicht: „Täter müssen wissen, auf eine Tat folgt eine Strafe. Auch im Sinne der Opfer.“
Unbehelligt könnten die beiden Männer, deren Akten nun in Würzburg liegen, ihren Lebensabend verbringen, würden noch die Gesetze aus der Frühzeit der Bundesrepublik gelten. Ihre Taten wären dann nämlich 1965 verjährt gewesen.
Die zentrale Ermittlungsstelle gibt es seit 1958. „Vor allem auf Druck der Medien“, sagt Schrimm. Sie war heftig umstritten. Der damalige Ludwigsburger Oberbürgermeister sah die Beamten gar als Nestbeschmutzer.
Der Grund für die Stimmung gegen die Fahnder sei vor allem der Wunsch gewesen, einen Schlussstrich unter die Nazizeit zu ziehen. Daran lag auch anderen westlichen Staaten, die als gefestigter Machtblock gegenüber dem Osten auftreten wollten. Doch die gesellschaftliche Diskussion kam in Gang – unter anderem durch die Frankfurter Auschwitz-Prozesse in den 1960er und 1970er Jahren. Dabei wurden 6000 Namen Verdächtiger notiert. Die Verjährung der Taten war zwar mehrmals verlängert und 1979 aufgehoben worden, die Liste aber blieb liegen. Jetzt nahmen die Ludwigsburger Ermittler sie sich vor.
Nachdem das Münchner Landgericht 2011 den KZ-Aufseher John Demjanjuk wegen Beihilfe zum Mord an 28 000 Menschen verurteilt hatte, sah Schrimm eine neue Rechtslage. Bisher mussten Angeklagten Konkretes nachgewiesen werden. Bei Demjanjuk war der Dienstausweis des KZ Sobibór Beweis für Beihilfe zum Mord, nachdem das Gericht überzeugt war, dass jeder in Sobibór Rad der Vernichtungsmaschinerie war.
„Wir betreiben nur zu 20 Prozent Juristerei“, sagt Schrimm. Er fühlt sich vor allem als Ermittler in der Geschichte. Hinweise, Aktenzeichen, Namen von Menschen und Orten erfassen die Beamten auf Karteikarten. Über 1,7 Millionen davon lagern in Metallschränken. Schrimm greift aus einem schmalen Schub ein Bündel von 13 Kärtchen heraus. Sie enthalten Stichworte zum Fall Josef Schwammberger. 1992 wurde der wegen grausamer Morde als Lagerkommandant zu lebenslanger Haft verurteilt.
Beklemmend, die gelben Karten in kalten Blechkästen, die das Grauen bürokratisch erfassen. Jurist Schrimm sieht sie schlicht als Arbeitsmittel. Diese Nüchternheit hilft ihm bei Vernehmungen in Kanada, Russland, Südamerika, USA, Israel. Bei den Zeugen gibt es solche, die das Erlebte verdrängt haben. Andere wollen eigentlich auch die Erinnerung ruhen, aber doch den Toten Gerechtigkeit widerfahren lassen. „Und die dritten warten schon an der Tür auf mich“, sagt Schrimm. Sie sehnten sich danach, dass sich jemand für ihr Schicksal interessiert.
Die Täter schweigen. Nach Jahrzehnten der Verdrängung seien manche durchaus von ihrer Unschuld überzeugt. „Ich habe niemanden erlebt, der etwas bereute“, sagt Schrimm. Höchstens hörte er ein Bedauern in der dritten Person, mit dem sich Täter gleichzeitig von Taten distanzieren: „Das hätte man nicht tun dürfen.“
Der Ermittler begegnete dem fanatischen Mörder Schwammberger. Er sah Alfons Götzfried, der als Junge auf Befehl 500 Juden tötete. „Er hatte gelernt, was ein Offizier sagt, muss er tun. Er dachte keine Sekunde nach“, sagt Schrimm. Julius Viel erschoss in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs sieben Menschen. „Er hat einfach die Nerven verloren“, vermutet Schrimm.
Kritiker der zentralen Fahndungsstelle zweifelten früher grundsätzlich an deren Sinn. Jetzt hört Schrimm eher die Frage: „Warum verfolgt ihr nur deutsche Verbrecher?“ Anderes verbiete der Überleitungsvertrag, sagt der Jurist. Der Vertrag wurde zum Ende der Besatzung Deutschlands 1952 mit den drei Westmächten geschlossen. Fakt sei freilich: „Es gibt keinen am Zweiten Weltkrieg beteiligten Staat, der nicht Kriegsverbrechen begangen hat.“ So bewunderten Juristen anderer Staaten Deutschland, dass es mit den Ermittlungen gegen Kriegsverbrecher in den eigenen Reihen etwas getan hat, was die eigenen Länder nicht schaffen.
„Nur in Polen gibt es eine Kommission, die sich seit etwa zehn Jahren auch um kommunistische Verbrechen kümmert“, sagt Kurt Schrimm. Das ist die Einrichtung, die 1945 ursprünglich als Sonderkommission zur Untersuchung von Naziverbrechen eingesetzt wurde. Und so kann sich Schrimm vorstellen, dass auch die Zentrale Ermittlungsstelle in Ludwigsburg in Zukunft ganz andere Aufgaben übernimmt.
Die Ermittlungsstelle
Die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen wurde 1958 gegründet. Die Landesjustizverwaltungen vereinbarten diese Einrichtung, weil die übliche Vorgehensweise bei staatsanwaltlichen Ermittlungen bei den NS-Verbrechen nicht funktionierte. Normalerweise wird die Staatsanwaltschaft tätig, in deren Bereich Täter wohnen oder der Tatort liegt. Im Fall der Nazi-Verbrechen lagen Tatorte oft außerhalb des Bundesgebiets. Gegenwärtig arbeiten 18 Leute in der Ermittlungsstelle, davon sieben Ermittler. Abgearbeitete Akten archiviert die Außenstelle des Bundesarchivs. Die Arbeit in Ludwigsburg trug seit 1958 zu mehr als 18 000 Verfahren wegen NS-Verbrechen bei. Text: bea