Als Angela Merkel den Deutschen auf dem Höhepunkt der Finanzkrise erklären musste, dass niemand auf Dauer über seine Verhältnisse leben kann, berief sie sich auf die schwäbische Hausfrau und ihre sprichwörtliche Sparsamkeit. Bei Wolfgang Schäuble ist diese Hausfrau die eigene Großmutter.
Die stammte von der Schwäbischen Alb, wo das Leben immer hart war und das Geld knapp, und hat ihrem Enkel einen alten Kalenderspruch mit auf den Weg gegeben, der perfekt ins Anforderungsprofil eines Finanzministers passt. „Gutmütigkeit“, hat sie den kleinen Wolfgang früh gewarnt, „kommt kurz vor der Liederlichkeit.“ Schäuble selbst, im Badischen geboren und aufgewachsen, beherzigt diesen Rat nun in den Verhandlungen mit der griechischen Regierung. „Es gibt eine Art von Großzügigkeit“, sagt er, „die ganz schnell das Gegenteil von dem bewirken kann, was beabsichtigt ist.“
Es sind Sätze wie diese, für die sie ihn in Athen hassen und in der Union verehren. Sätze, die häufig ein wenig oberlehrerhaft klingen, ziemlich kühl und zugleich doch so eindringlich. Wie kein europäischer Spitzenpolitiker sonst hat Schäuble in den vergangenen Wochen seine Zweifel an der Politik der immer teureren Hilfspakete auf den Punkt und einen vorübergehenden Ausstieg des Landes aus der Eurozone ins Spiel gebracht, den sogenannten Grexit auf Zeit. Selbst jetzt, da die Lage sich wieder etwas beruhigt hat und er ein paar Tage auf Sylt ausspannt, ebben die Nachbeben nicht ab. Schäuble, schimpft sein früherer griechischer Kollege Gianis Varoufakis im „Spiegel“, führe sich auf, als habe er die Eurozone erschaffen, ja als gehöre sie ihm. Der deutsche Finanzminister sei unter den Kollegen aus den 19 Euroländern „Komponist und Dirigent in einer Person, eine Kombination aus Beethoven und Karajan“.
Als treuer Gast der Berliner Philharmonie wird Schäuble den Vergleich mit einer gewissen Genugtuung registriert haben. Man solle sich von seinem unschuldigen Lächeln und seiner protestantischen Ethik nur ja nicht täuschen lassen, empfiehlt ein Parteifreund, der ihn gut und lange kennt. „In ihm steckt ein Machiavellist durch und durch.“ So einer, soll das heißen, empfinde das, was Varoufakis da über ihn sagt, nicht als Kritik, sondern als höchste Form der Anerkennung.
Dafür hassen sie ihn Athen
Im Spätherbst seiner Karriere fordert die Griechenlandkrise ja nicht nur den Finanzminister in ihm, sondern auch den Strategen Schäuble. Ob er es deshalb tatsächlich auf einen Grexit hätte ankommen lassen oder ob er mit seiner kompromisslosen Rhetorik nur den Druck auf Athen weiter erhöhen wollte, wissen nur die Kanzlerin und er selbst. Schäuble, heißt es, wäre den entscheidenden Schritt vermutlich gegangen – und Angela Merkel habe den Grexit in den Vorgesprächen immerhin als Möglichkeit akzeptiert, auch wenn sie nicht wirklich überzeugt gewesen sei.
Am Ende aber ist es allein das Ergebnis, das zählt. „Sachlich hat er alles richtig gemacht“, lobt der frühere Finanzminister Theo Waigel den Kollegen. Für ihn haben die Kanzlerin und Schäuble nicht nur ein neues Rettungspaket mit ausgehandelt, sondern vor allem ein politisches Zeichen gesetzt: „Europa ist nicht erpressbar.“
Ob der Kompromiss nun auch hält, was Europa sich verspricht, werden erst die Verhandlungen zwischen den Geldgebern und der griechischen Regierung zeigen. Schäuble gehört zu denen, die mit ihrer Skepsis nicht hinter dem Berg halten – und diese Skepsis speist sich nicht nur aus nüchternen finanzpolitischen Erwägungen. Mehr noch als Angela Merkel mit dem griechischen Premier Alexis Tsipras hat er mit Varoufakis erlebt, wie wenig eine heute gegebene Zusage morgen schon wieder wert sein kann und wie dreist die griechische Regierung zeitweise versucht hat, mit ihm wie mit einer Marionette zu spielen.
Das, vor allem, hat ihn misstrauisch gemacht und ein wenig unnachgiebiger wohl auch. Wo Angela Merkel noch auf die Kraft der Diplomatie baute, drohte er schon mit dem Grexit. Schäubles Verhältnis zur Kanzlerin ist dadurch nicht weniger kompliziert geworden.
Für sich hat er eine rote Linie gezogen
Seine Generalsekretärin Merkel war es, die ihm im Sog der CDU-Spendenaffäre als Parteivorsitzende folgte und seinen Traum vom Kanzleramt damit endgültig beendete. Sie war es, die Horst Köhler zum Bundespräsidenten machte und nicht ihn – und sie war es auch, die in der entscheidenden Verhandlungsrunde alles wollte, nur keinen Grexit mehr. Am Ende hat sie sich durchgesetzt, wenn auch um einen hohen Preis. Dass Schäuble wenig später öffentlich mit einem Rücktritt kokettierte, war auch ein Zeichen an sie: Es gibt eine rote Linie, die er nach mehr als 40 Jahren in der Politik für sich gezogen hat. Wenn jemand versuchen sollte, ihn zu etwas zu zwingen, hat Schäuble gesagt, ohne überhaupt danach gefragt worden zu sein, „könnte ich zum Bundespräsidenten gehen und um meine Entlassung bitten“.
Es ist eine Bemerkung, die auf den ersten Blick vergleichsweise harmlos wirkt, in der sich in Wirklichkeit aber eine politische Provokation verbirgt. Im Grundgesetz heißt es, Bundesminister werden „auf Vorschlag des Bundeskanzlers vom Bundespräsidenten ernannt und entlassen“. Dass ein Minister sich quasi selbst seines Amtes enthebt und unter Umgehung der Regierungschefin direkt zum Präsidenten fährt: Das ist im Drehbuch der parlamentarischen Demokratie ebenso wenig vorgesehen wie das Amt eines Nebenkanzlers, als der Schäuble neuerdings gerne beschrieben wird. Sicher ist allerdings auch: Ein Rücktritt des Finanzministers würde mindestens die Union, wenn nicht gar die gesamte Koalition aus dem Gleichgewicht bringen.
Vor knapp fünf Jahren hat Schäuble ihn der Kanzlerin angeboten, als er nach einer Operation lange im Krankenhaus lag und auch enge Vertraute nicht wussten, ob er den Strapazen seines Amtes nicht bald würde Tribut zollen müssen. Damals überredete sie ihn, es doch noch einmal zu versuchen. Heute absolviert der 72-Jährige wieder ein Pensum, das manchen Menschen mit kleineren Handicaps mehr zu schaffen machen würde als ihm.
Pendler auf der Strecke Berlin-Brüssel
Während der Verhandlungen mit Griechenland pendelte er teilweise viermal pro Woche zwischen Berlin und Brüssel, manche Sitzung zog sich bis weit in die Nacht – und auch in der deutschen Innenpolitik erledigen sich die Probleme ja nicht von selbst: Die steigenden Flüchtlingszahlen kosten auch den Bund viel Geld, gegen seine Pläne mit der Erbschaftsteuer rebellieren die Wirtschaft und die CSU. Obwohl Schäuble der erste Finanzminister seit 46 Jahren ist, der mit dem Geld auskommt, das er einnimmt, werden die Begehrlichkeiten der anderen Ressorts, des Koalitionspartners oder der Länder deswegen ja nicht kleiner. Ganz im Gegenteil.
Sieben von zehn Deutschen sind heute mit Schäubles Arbeit zufrieden – für einen Finanzminister, der das Geld auch in guten Zeiten zusammenhalten muss, ist das ein bemerkenswerter Wert und für Schäuble selbst vermutlich eine große Genugtuung. Die Politik ist sein Leben, und dieses Leben hat für ihn mit seinen gescheiterten Ambitionen auf die Kanzlerschaft, auf die Präsidentschaft oder später auf den Vorsitz der Eurogruppe noch immer etwas Unvollendetes. Sein Verhältnis zu Helmut Kohl ist ja nicht erst seit dem Spendenskandal irreparabel beschädigt, das zu Angela Merkel von professioneller Distanz geprägt und manche alte Wunde noch immer nicht verheilt.
Dafür feiern ihn die Abgeordneten der Union, die ihn für seine bissige, oft etwas zynische Art immer ein wenig gefürchtet haben, heute als standfesten Helden. Innerhalb weniger Wochen, sagt der CDU-Mann Axel E. Fischer, habe Schäuble „enorme Sympathien gewonnen“.
Für den CSU-Mann Johannes Singhammer gehört er gar „in den Finanzolymp“. Fischer erinnert sich noch gut, wie er vor einigen Jahren in einer Arbeitsgruppe der Haushaltspolitiker mit dem Finanzminister zusammensaß und über die Folgen der Krise debattierte. „Die Banken zu retten“, sagte Schäuble damals, „das schaffen wir noch. Aber wenn wir anfangen, Staaten zu retten, dann zerreißt es uns.“
Stationen eines Politikerlebens
Kindheit und Ausbildung: Wolfgang Schäuble wurde am 18. September 1942 in Freiburg/Breisgau geboren und wuchs mit zwei Brüdern in Hornberg auf. Sein Vater war Steuerberater und Landtagsabgeordneter in Stuttgart. Nach dem Abitur 1961 machte Schäuble ein halbjähriges Praktikum bei einer Sparkasse und studierte dann Rechts- und Wirtschaftswissenschaften in Freiburg und Hamburg. Nach dem Ersten Juristischen Staatsexamen war er Assistent an der Uni Freiburg.
Dem Gerichtsreferendariat (1968-1970) und dem Assessorexamen folgte 1971 die Promotion zum Dr. jur. Beruf und Einstieg in die Politik: Bis 1972 war Schäuble Regierungsrat beim Finanzamt Freiburg, später Rechtsanwalt (bis 1984). 1961 trat er in die Junge Union ein, seit 1965 ist er CDU-Mitglied, seit 1972 Bundestagsabgeordneter für den Wahlkreis Offenburg. Familie: Schäuble heiratete 1969 Ingeborg Hensle, mit der er vier Kinder bekam. Aufstieg: 1984 bis 1989 war er unter Helmut Kohl Kanzleramtsminister, danach bis 1991 Innenminister. Nach dem Mauerfall 1989 zählte er zu den „Architekten der deutschen Einheit“. Er hatte die Federführung bei der Ausgestaltung der Staatsverträge im Einigungsprozess mit der DDR. Das Attentat: Am 12. Oktober 1990 schoss ein psychisch Kranker bei einer Wahlkampfveranstaltung im badischen Oppenau Schäuble nieder. Seither ist er auf den Rollstuhl angewiesen. Fraktions- und Parteivorsitz: 1991 bis 2000 war Schäuble Chef der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, 1998 bis 2000 auch Parteivorsitzender. CDU-Spendenaffäre: Nachdem Schäuble zugeben musste, von dem Waffenlobbyisten Karlheinz Schreiber 1994 eine Barspende von 100 000 DM für die CDU entgegengenommen zu haben, trat er im Februar 2000 vom Partei- und Fraktionsvorsitz zurück.
Friedrich Merz folgte ihm als Fraktionsvorsitzender, Angela Merkel als Parteivorsitzende. Innenminister: Obwohl Schäuble 2005 im Wahlkampfteam von Angela Merkel für Außen- und Sicherheitspolitik zuständig war, musste er das Ministeramt in der Großen Koalition der SPD überlassen. Er wurde stattdessen Innenminister. Finanzminister: 2009 übernahm er im Kabinett Merkel II das Finanzministerium, dabei ist es auch 2013 im Kabinett Merkel III geblieben. Text: AZ