Die Salatschüssel, halbvoll mit Wasser, steht auf dem Holzvorsprung einer Vitrine und scheint niemanden zu kümmern. Orangefarben, aus Plastik, irgendwie hässlich wirkt sie wie ein Fremdkörper in dem Pub, der sich von seiner klassischen Seite mit holzgetäfelter Wand und Bier getränktem Teppich zeigt. Das englische Gasthaus ist im Palace of Westminster untergebracht, eins von mehreren freilich, wo Abgeordnete und Angestellte gerne ihren Feierabend begießen und über einem Pint Ale die Wahlkampfparolen der politischen Gegner zerpflücken.
Einer der Anzuggäste rauscht vorbei, nimmt die grelle Schüssel schmunzelnd zur Kenntnis. Warum sollte er sich wundern? Jeder weiß, dass es tropft und bröselt im weltberühmten Parlament in London. Das Gebäude, in dem Ober- und Unterhaus tagen, strahlt eine lange Geschichte aus. Und könnte nun von ihr überwältigt werden.
Wahrzeichen am Ufer der Themse
Der neugotische Komplex mit mehr als 1000 Räumen bröckelt buchstäblich seit Jahrzehnten vor sich hin. Fast verzweifelt machte der Unterhaus-Sprecher John Bercow jüngst den Ernst der Lage deutlich. Wenn der Bau in den nächsten zehn Jahren nicht umfassend und grundlegend saniert werde, müssten die Abgeordneten und Lords das Zentrum der britischen Macht innerhalb der nächsten 20 Jahre räumen, stellte er klar. Ohne Aussicht auf eine Rückkehr, die Schäden wären zu fortgeschritten. Irreparabel.
Doch um das Wahrzeichen am Ufer der Themse zu retten, sei eine „nicht belanglose“ Summe öffentlicher Gelder vonnöten. Er schätzte die Kosten auf mindestens drei Milliarden Pfund, umgerechnet 4,2 Milliarden Euro – eine Riesenstange Geld für das Königreich. Dessen Wirtschaft wächst zwar nach langer Rezession wieder kräftig, aber die Menschen ächzen noch immer unter den harten Sparmaßnahmen. Zudem dürfte sich die Euphorie bei den Steuerzahlern in Grenzen halten in Anbetracht von Skandalen um Spesenabrechnungen, Klüngeleien und Nebenjobs der Volksvertreter sowie einer allgemeinen Skepsis gegenüber dem Establishment. Das Vertrauen der Bevölkerung in die Eliten des Landes leidet merklich unter gebrochenen Wahlversprechen und dem Eindruck, in Westminster herrsche eine Arroganz der Macht, die die Sorgen der Bürger ignoriert und nur die eigenen Vorteile im Blick hat. Aber den zum Unesco-Weltkulturerbe zählenden Palace of Westminster, Ort der Volksvertreter und Vorzeige-Ort fürs Volks, vor sich hingammeln zu lassen? Das kann sich ebenfalls niemand vorstellen.
Am Elizabeth Tower schlägt die berühmte Glocke Big Ben zur vollen Stunde. 19 Uhr. Besucher trippeln zur langen Schlange, die nie merklich endet und fast schon zum Eingang gehört wie die Sicherheitsschleuse mit Metalldetektor und Taschenkontrolle. Sie landen in der Westminster Hall, dieser eindrucksvollen Halle aus dem 11. Jahrhundert, wo der Blick automatisch in Richtung der großen mittelalterlichen Holzdecke saust. „Wow“, hallt es durch den gewaltigen Saal. Zwei Schottinnen können nicht genug Selfies schießen vor der prachtvollen Kulisse.
Hier standen schon die englischen Könige, die bis ins 16. Jahrhundert in Westminster residierten. Hier wurde der schottische Freiheitskämpfer William Wallace, vor allem bekannt in Gestalt des Schauspielers Mel Gibson im Film „Braveheart“, zum Tode verurteilt. Hier war der Leichnam von Winston Churchill aufgebahrt. Es ist englische Geschichte am Originalschauplatz, herausgeputzt für Besucher und Politiker.
Fataler Großbrand im Jahre 1834
In der Central Lobby einige Meter weiter treffen sich britische Bürger mit ihren Abgeordneten unter einem riesigen Kronleuchter, an der Decke glitzert es golden, an den Wänden blicken Steinmetzfiguren aus der langen Historie des Königreichs auf das derzeitige Geschehen. Die Lobby thront zwischen Oberhaus, dem House of Lords, und Unterhaus, dem House of Commons, die in einer Achse erbaut wurden, nachdem ein fataler Großbrand im Jahr 1834 den Monumentalkomplex fast vollständig zerstörte. Das Gebäude wurde im neugotischen Stil errichtet, und 1847 zog das House of Lords ein, seit 1852 tagt auch das House of Commons wieder an dem traditionellen Ort.
Es existieren noch immer einige Teile, die seitdem nie saniert wurden – seit mehr als 150 Jahren. Als während des Zweiten Weltkriegs Bomben der deutschen Luftwaffe das Parlament schwer trafen, beschloss die Regierung, den Palast zu renovieren und vorsichtig zu modernisieren. Ein Politiker bezeichnet es flüsternd als „herumfrickeln“, so als traue er sich kaum, die „Mutter aller Parlamente“ zu kritisieren. Immerhin – die Klimaanlage ist eine Errungenschaft aus der Mitte des vergangenen Jahrhunderts.
Schon damals feuerten Abgeordnete Argumente für einen Neubau in die Diskussion und schlugen eine für englische Verhältnisse fast revolutionäre Sitzordnung vor, etwa in Form eines Halbkreises oder eines Hufeisens – so wie die meisten Parlamentarier-Plätze weltweit angeordnet sind. Doch Winston Churchill, Premierminister zu jener Zeit, bestand auf die traditionelle Aufteilung, nach der sich die Regierung und die Opposition gegenüber sitzen. Und streiten. Buhen. Johlen. Protestieren. Lachen. Kritisieren. Die Kammer mit den mit grünem Leder bezogenen Bänken versinnbildliche das britische Zwei-Parteien-System. „Wir formen unsere Gebäude, und anschließend formen sie uns“, beendete der Kriegspremier die Debatte. Viel passiert ist bis heute nicht, eine umfassende Sanierung hat nie stattgefunden.
Wenn am 7. Mai die Wahl ansteht und die Politiker darum kämpfen, ins Parlament einzuziehen, kann es sein, dass sie schon kurz darauf wieder ausziehen müssen. Denn die größte Gefahr lauert unter den Füßen der politischen Streithähne. Dort, wo in gewaltigen Schächten Kabel in Bündeln herum- und durchhängen sowie alte Rohre unbedingt ausgetauscht werden müssten, zeigt sich der verheerende Zustand des Gebäudes am deutlichsten.
Gotische Schwermut
Während die warmen Lichter die Central Lobby in eine gotische Schwermut tauchen, verschwindet die Pracht hinter den Türen schnell. Zugang nur mit Ausweis, Touristen nicht erwünscht. Zum Pressebereich führt eine alte Holztreppe nach oben. Was kommt, sind abgetretene, in Brauntönen gemusterte Teppichböden, es riecht nach verstaubten Büchern, dunkelgrüne Sofas hatten ihre besten Tage in den 60er Jahren. Die Wände vergilben vor sich hin. Auf einem der Balkone können Blumenkästen mit lilafarbenen Geranien, Thymian und Rosmarin nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Luftverschmutzung der Metropole das kunstvolle Dekor der Außenfassade schwärzt und das Wasser, das durch die Dächer eindringt, immense Schäden am Mauerwerk verursacht.
Überschwemmungen haben ihr Übriges getan. Im Tea Room des Parlaments nerven Mäuse die Volksvertreter, mittlerweile wurde sogar eine Telefonhotline eingerichtet, unter der die Abgeordneten sich melden können, sollten sie die Nagetiere entdecken. Viele Wände sind mit Asbest verkleidet, die Brandschutzanlagen können nicht eingehalten und die Heizung darf als veraltet bezeichnet werden. „Wenn wir es vermeiden wollen, buchstäblich im Schlamm zu versinken, müssen sehr wichtige und möglicherweise teure Entscheidungen getroffen werden“, betonte Sprecher John Bercow. Eile sei geboten. „Irgendwann wird etwas Größeres passieren“, sagte John Thurso, der in der Kommission des Unterhauses zum Erhalt von Westminster sitzt. Vielleicht kollabiere ein Teil des Gebäudes, oder es breche ein Brand aus, „irgendein ernstes, katastrophales Ereignis“, sagte er gegenüber Medien. „Wir haben den Punkt erreicht, an dem unbedingt etwas getan werden muss.“
Doch eine vollständige Sanierung während des Politbetriebs scheint schwierig und teuer. Der Baulärm stört, schon jetzt beschweren sich die Parlamentarier. Denn seit einigen Jahren wird am Nötigsten herumgebastelt, um Zeit zu gewinnen, Handwerker gehören bereits zum Personalinventar des Parlaments dazu. Würde man so weitermachen, wären die Arbeiten laut Bercow jedoch in 50 Jahren noch nicht beendet. Deshalb drängt er auf eine schnelle Entscheidung, auch wenn ihm nicht sehr wohl bei der Idee sei, dass das Parlament in ein anderes Gebäude umziehen müsse. „Das ist eine fabelhafte Institution in einer beeindruckenden Umgebung“, so der Unterhaussprecher über Westminster. Es dürfe nicht den Charakter eines Museums haben.
Unvorstellbare Gedanken
Weil Bercow die Möglichkeit, außerhalb Londons einen neuen vorläufigen Standort zu suchen, nicht ausgeschlossen hat, laufen seit Wochen die Diskussionen. Ein Abgeordneter findet, der Norden, Manchester oder Birmingham etwa, böten gute Alternativen. „Damit würden wir ein Zeichen setzen.“ Viele Briten seien genervt von der Fixierung auf London, sagt der Engländer, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will. „Vielleicht würde uns und der Politik ein Umzug gut tun.“
Für die meisten aber ist der Gedanke, nicht in Westminster und dann auch noch außerhalb der Hauptstadt zu tagen, schlicht unvorstellbar. „Es würde mir das Herz brechen“, sagt einer der Volksvertreter. Bis Juni bestimmt eine Untersuchungskommission nun die Kosten und die erforderlichen Maßnahmen. Ihr zufolge könnten die Arbeiten nicht vor 2021 beginnen und bis zu zehn Jahre andauern – gesetzt den Fall, sie würden ungestört und am Stück vorangehen. Bis dahin fangen weiterhin Salatschüsseln und Eimer das tropfende Wasser auf. Sie dürften in ihrer Zahl noch zunehmen.