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Das angeschlagene Juwel von Paris
Denkmalschutz Wann und wie wird Notre-Dame nach dem Brand am 15. April wieder aufgebaut? Was war die Brandursache? Wann das Monument für Besucher geöffnet wird, ist noch unklar.
Nach dem verheerenden Brand der Kathedrale Notre-Dame       -  _
Foto: Gigarama.Ru (Gigarama.ru)
Birgit Holzer
 |  aktualisiert: 11.12.2019 10:12 Uhr

Mit lässigen Armbewegungen lässt der Bauarbeiter Wasser aus einem Schlauch auf den Steinboden brausen, um ihn zu reinigen. Er setzt dabei einen so unbeteiligten Gesichtsausdruck auf, als befände er sich nicht auf Frankreichs berühmtester Baustelle. Gelbliche Metallplanken sperren sie ab, über denen Stacheldraht angebracht ist. Nur auf Höhe des Haupteingangs gibt ein Gitter den Blick frei – auf den Arbeiter und seine Kollegen mit Bauhelmen auf dem Kopf, die zwischen sauber aufgereihten Gerüstteilen miteinander diskutieren. Und auf den Haupteingang der Baustelle namens Notre-Dame.

Auf der anderen Seite der Metallstäbe sammeln sich Touristen, die versuchen, möglichst viel von der Kathedrale zu erhaschen. Von der berühmten Rosette, über der jetzt ein Loch klafft. Von den beiden Zwillingstürmen und den filigran ausgearbeiteten Figurenportalen – sie hielten dem verheerenden Brand am 15. April dieses Jahres stand. Anders als ein großer Teil des Dachs und das Balkengewölbe, das die Flammen auffraßen. Notre-Dame wirkt immer noch wuchtig; doch man weiß jetzt, dass der Eindruck der Unverwüstlichkeit täuscht.

Das ganze Ausmaß der Zerstörung ist aus der Distanz kaum zu ermessen. Aber davon zeugen Bilder des demolierten Innenraums voller Schutt. Und vor allem die Videos vom Flammeninferno über der gotischen Kathedrale und dem erschütternden Moment, als der schlanke Vierungsturm in die Tiefe stürzte. „Wir haben es im Fernsehen miterlebt“, sagt ein amerikanisches Paar mit betroffener Miene. „Es hat uns sehr schockiert. Notre-Dame ist das Juwel von Paris!“

Am Tag nach der Katastrophe versprach Präsident Emmanuel Macron, die Kathedrale würde „noch schöner als zuvor“ wieder aufgebaut – in nur fünf Jahren. Wahrscheinlich hatte er dabei die Olympischen Sommerspiele im Blick, die Paris 2024 ausrichtet. Bürgermeisterin Anne Hidalgo, die auf ihre Wiederwahl im März 2020 hofft, äußerte sich ähnlich ambitioniert. Rasch lancierte die Regierung einen internationalen Architekten-Wettbewerb zum Wiederaufbau des Spitzturms, der aus dem 19. Jahrhundert stammte. Gilt es, ihn mit etwas Zeitgenössischem zu ersetzen oder ihn identisch zu rekonstruieren? Während sich sowohl die Unesco, die Notre-Dame auf ihrer Weltkulturerbe-Liste führt, als auch die Mehrheit der Bevölkerung für deren authentischen Wiederaufbau ausspricht, machten Architektenbüros abenteuerliche Vorschläge – vom Glasdach über ein Schwimmbad bis zu einem Treibhaus. Derweil streiten die beiden Parlamentskammern um ein Gesetz, mit dem die Regierung Bauregeln, Umwelt- und Denkmalschutznormen aussetzen will, um die Arbeiten zu beschleunigen. Etliche Architekten, Denkmalschützer und Bauspezialisten kritisierten den eiligen Zeitplan. In einem offenen Brief an Macron riefen 1170 französische und internationale Persönlichkeiten dazu auf, „sich Zeit für die Diagnose zu nehmen und den Experten zuzuhören“.

Ohnehin muss zunächst die Zerstörung durch das Feuer und das Löschwasser analysiert werden; parallel dazu laufen die Stützungsarbeiten. Der Stiftung Notre-Dame zufolge bestehe „einer der komplexesten Aspekte“ zudem darin, das vor dem Brand errichtete Baugerüst mit seinen 50 000 Röhren abzubauen, die das Feuer auf mehr als 800 Grad erhitzt hatte. Momentan ragt es wie ein Krater aus der Mitte des Monuments.

In der Nachbarschaft hofft man auf schnelles Voranschreiten. Hier auf der größeren der beiden Seine-Inseln, der Île de la Cité, nahm Paris vor mehr als 2000 Jahren seinen Anfang, das sich aus der keltischen Siedlung „Lutetia“ entwickelte. Heute wohnen nur wenige Menschen auf den Inseln; durch die schmalen Straßen flanieren vor allem Besucher, bislang angezogen von Notre-Dame, dem am häufigsten besuchten Monument Frankreichs. Rund 13 Millionen Menschen kamen pro Jahr in das 850 Jahre alte Gotteshaus. Selbst wenn viele nun das abgesperrte Gelände umrunden – eine derzeit so lädierte Kathedrale zieht keine Massen an.

„Es ist gar kein Vergleich“, sagt die Besitzerin eines Souvenir-Ladens in der Nähe des Westeingangs. Ratlos steht sie vor ihrer Boutique. „Früher war oft der gesamte Vorplatz voller Leute. Wir spüren den Einbruch sehr stark.“ Dasselbe berichtet Aline, Verantwortliche für eine Eisdiele ein paar Meter weiter. „Ich schätze den Rückgang der Kunden auf 30 Prozent. Wir haben große Einbußen, dabei läuft das Geschäft ohnehin nur im Sommer.“ Sie habe gehört, dass die gelben Absperrungen durch transparente Planen ersetzt werden könnten. Der Brand habe sie erschüttert, sagt die junge Frau mit der großen, runden Brille: Notre-Dame gehöre zu ihrem Alltag. „Davon abgesehen müssen wir wegen der Partikel in der Luft alle unser Blut testen lassen und auch das Gebäude wurde auf gefährliche Rückstände hin untersucht.“ Rund 250 Tonnen Blei waren auf der Turmabdeckung und auf dem Dach verbaut. Über Stunden schmolz es bei dem Brand dahin. Wirtschaftsminister Bruno Le Maire hat direkte Hilfen in Höhe von insgesamt 350 000 Euro für die Geschäftstreibenden auf der Île de la Cité versprochen, deren Umsatz eine Million Euro nicht übersteigt. Aber er mahnte auch „längerfristige Überlegungen zum Überleben dieser Läden in den nächsten Jahren“ an. Vom Brandunglück besonders betroffen sind auch die Gläubigen, die die Gottesdienste besuchten. Die Diözese hat angekündigt, einen Andachtsraum auf dem Vorplatz der Kirche zu errichten, wo diese die Beichte ablegen können, sobald die Sicherheitslage es zulässt.

Ein schneller Wiederaufbau dürfte zumindest nicht am Geld scheitern. In kurzer Zeit sammelten vier Stiftungen oder Vereine sowie der französische Staat eine Gesamtsumme von 850 Millionen Euro – wohlgemerkt handelte es sich um Versprechen. Tatsächlich gingen bislang allerdings nur 80 Millionen ein. Die Besitzer der Konzerne LVMH, Kering und L‘Oréal kündigten an, die jeweils versprochenen 200 bzw. 100 Millionen Euro nach und nach zu überweisen. Der Stiftung Notre-Dame zufolge dürfte „der Gesamtbetrag, der für die Restaurierung notwendig ist, bis zum Frühling 2020 unbekannt bleiben”.

Auch die Ermittlungen über die Brandursache erfordern einen langen Atem und werden sich wohl über Jahre hinziehen. Ende Juni bestätigte die Pariser Staatsanwaltschaft, dass es auch nach rund 100 Zeugenbefragungen „keinerlei Hinweise“ für Brandstiftung gebe. Als wahrscheinlichste Ursachen nannte sie eine weggeworfene Zigarette, einen Kurzschluss oder eine Störung des elektrischen Warnsystems. Inzwischen ermitteln drei Untersuchungsrichter gegen unbekannt wegen „mutwilliger Sachbeschädigung“ und Verletzung der Sicherheitsvorschriften. Dass Arbeiter auf der Baustelle am Dachstuhl das Rauchverbot missachteten, ist inzwischen bekannt. Außerdem wurde bei der Sicherheit gespart, seit 2015 gab es statt zwei Planstellen nur noch eine. Der zuständige Sicherheitsbeauftragte am 15. April war noch neu im Job und als der Feueralarm losging, konnte er die betroffene Stelle zunächst nicht zuordnen. 30 wertvolle Minuten vergingen, bis die Feuerwehr gerufen wurde – bei ihrer Ankunft loderten die Flammen meterhoch.

Während bedeutende Reliquien wie die heilige Dornenkrone, die Tunika Saint-Louis und die weltberühmte Orgel gerettet werden konnten, verbrannte unter anderem das große Uhrwerk, das sich unter dem Vierungsturm befand. Ein Bauplan fehlte. Doch dann geschah etwas, das der Uhrmachermeister Jean-Baptiste Viot als „riesiges Glück“ bezeichnet.

Bei der Inventur in der Pariser Kirche Sainte-Trinité entdeckte er ein fast identisches Uhrwerk mit einer ähnlich aufwendigen Zahnrad-Mechanik auf einem mehrere Meter großen Holzgestell – gefertigt ebenfalls im Jahr 1967 und in derselben Werkstatt. „Es ist, als fände man eine andere Ausgabe eines Buches, das verbrannt ist“, jubelte Viot. Das erlaube die Arbeitsbasis für die originalgetreue Rekonstruktion des komplexen Mechanismus. Es braucht noch Geduld, bis die Glocken von Notre-Dame erneut läuten. Dass sie es in einigen Jahren wieder tun, scheint aber sicher.

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Foto: PHILIPPE LOPEZ (AFP)
 
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