Der Weg in die Hölle war von Übelkeit begleitet. Schulter an Schulter und doch einsamer als je zuvor saßen die Männer in ihren schaukelnden Booten. Kaum einer, der sich nicht übergeben musste, während Salzwasser auf die Stahlhelme prasselte und die hohen Wellen gegen die Boote schwappten. „Mir war egal, ob ich erschossen werde oder nicht, ich wollte nur runter vom Landungsboot und wieder festen Boden unter den Füßen spüren“, erinnerte sich Robert Coupe aus dem englischen Blackpool vor wenigen Jahren.
Es war kalt, miserables Wetter – und das Anfang Juni. Und als der Morgen graute, an jenem Dienstag im Jahr 1944, sah der 19-Jährige plötzlich die vielen, vielen Kähne, die sich langsam der französischen Küste näherten – dem Inferno. Über den Soldaten tausende Bomber, vor ihnen die Sanddünen und der anhaltende Feuerschlag der Schiffsgeschütze, die deutsche Befestigungsanlagen beschossen. Die letzten langen Meter wateten die Soldaten durchs kalte Wasser. Bis zur Achselhöhle reichte es Robert Coupe, dessen Einheit bei der Schlacht um Caen in der Normandie – heute Partnerstadt von Würzburg – zum Einsatz kam. Unzählige von ihnen sollten nicht lebend den Strand erreichen. Es wurde so viel geschossen und gebombt, dass kaum noch jemand erkannte, aus welcher Richtung die Granaten und Kugeln kamen. Und doch wussten die Männer, dass sie gerade Geschichte schrieben.
Es war der 6. Juni 1944, und mit diesem Morgen wurde der Beginn des Endes des Zweiten Weltkriegs eingeläutet. So jedenfalls bezeichnet die Öffentlichkeit in Großbritannien gerne diesen historischen Tag, als mehr als 155 000 Soldaten in Nordfrankreich landeten. Welche überragende Bedeutung dieses Ereignis noch heute für das Land hat, zeigt am Mittwoch ein ungewöhnlicher Moment bei der Gedenkveranstaltung zum 75. Jahrestag im südenglischen Portsmouth: Als einige der etwa 300 anwesenden Veteranen die Bühne betreten, unter ihnen der 99-jährige John Jenkins, und Beifall aufbrandet, erhebt sich selbst Königin Elizabeth von ihrem Platz, was nun wirklich nicht jeden Tag vorkommt. Als sie über die „vielen mutigen Männer“ spricht, sagt sie: „Das Schicksal der Welt hing von ihrem Erfolg ab.“
Die Anti-Hitler-Koalition eröffnete die Westfront
Mit dem D-Day startete die „Operation Overlord“, durch die die Anti-Hitler-Koalition unter Federführung der USA und Großbritannien eine Westfront eröffnete. Mehr als 4000 Landungsboote brachten tausende Männer, aus den USA und Großbritannien, aus Frankreich, Polen, Kanada oder Australien, an den rund 30 Kilometer langen Küstenstreifen, den die Alliierten in fünf Landezonen eingeteilt hatten. Im Hinterland der Küste landeten zudem rund 23 000 Soldaten mit roten und weißen Fallschirmen.
Die deutsche Wehrmacht hatte mit einer Invasion weiter nördlich bei Calais gerechnet, wo deshalb die meisten Divisionen stationiert waren. Es kam anders. Am Ende hatten die Deutschen „der größten alliierten Invasion, die jemals gebildet wurde“, wie es der britische Historiker Toby Haggith vom renommierten Imperial War Museum nennt, lediglich 50 000 Mann entgegenzusetzen.
Seitdem sind also 75 Jahre vergangen, und entsprechend üppig fallen die Gedenkveranstaltungen aus. Erst die in Portsmouth mit dem „größten britischen Militärspektakel der jüngeren Geschichte“ und viel politischer Prominenz – von US-Präsident Donald Trump und Großbritanniens Premierministerin Theresa May über Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron bis zu Bundeskanzlerin Angela Merkel. Eine Zeremonie, die persönlich und emotional ausfällt und in der es weniger um aktuelle Politik geht als um die Erinnerung an jene Menschen, die große Opfer brachten.
Immer wieder werden Briefe, Berichte und Tagebucheinträge von Soldaten oder Angehörigen vorgelesen, im Hintergrund laufen auf einem großen Bildschirm Schwarz-Weiß-Aufnahmen von damals. Und Angela Merkel betont, wie bedeutend es sei, als deutsche Kanzlerin bei der Veranstaltung dabei sein zu können. „Dass wir heute gemeinsam für den Frieden und die Freiheit eintreten, das ist ein Geschenk der Geschichte, das es zu schützen und zu pflegen gilt.“
An diesem Donnerstag dann finden die Feierlichkeiten in der Normandie selbst statt – ebenfalls mit internationalen Gästen, aber anders als vor fünf Jahren ohne Angela Merkel und ohne den russischen Präsidenten Wladimir Putin. Das ist umso überraschender, als Macron wie sein Vorgänger François Hollande solche Jahrestage gerne für prunkvolle Zeremonien nutzt. An der Seite von Premierministerin Theresa May will Macron den Grundstein für ein britisches Mahnmal legen. Mit Trump wiederum ist ein Mittagessen geplant sowie eine gemeinsame Zeremonie auf dem US-Friedhof in Colleville-sur-Mer, zu der etwa 12 000 Menschen erwartet werden. Zur Feier im Abschnitt Juno Beach, wo 1944 mehr als 20 000 kanadische Soldaten landeten, kommt statt Macron allerdings Premierminister Édouard Philippe. Der Präsident selbst nimmt an einer Hommage für 177 getötete Soldaten der Kommando-Einheit der Freien Französischen Marine unter Philippe Kieffer teil – was nicht jedem gefällt.
So mutig diese auch gewesen seien, sagt der französische Historiker Olivier Wieviorka: Bei dieser besonderen Ehre für 177 Franzosen handele es angesichts von rund 150 000 Soldaten aus aller Welt, die in der Normandie kämpften, um eine „Verzerrung der Ereignisse“. Wieviorka sagt, überhaupt werde die Rolle der französischen Résistance oft überbetont. Zumindest aus militärischer Sicht sei sie minimal gewesen – sie habe die Befreiung beschleunigt, aber nicht über den Krieg entschieden.
Erklären lässt sich dies Wieviorka zufolge mit der französischen Erinnerungskultur: „Die Landung steht für die Franzosen für den Beginn der Befreiung ihres Landes von der Nazi-Besatzung und ist im kollektiven Gedächtnis stärker verankert als das Ende des Krieges.“ Einen Anteil daran habe auch die spannungsreiche Dramaturgie der Ereignisse – die Faszination für die modernen technologischen Mittel, die eingesetzt wurden, für die ankommenden Helden, die Erfolge der Agenten.
Das Narrativ, zusammen mit den Amerikanern die Befreier Europas zu sein, wird derweil gerne in Großbritannien genutzt. Und so liefen wochenlang die Vorbereitungen für den Gedenktag. Im ganzen Land wurden historische Ereignisse nachgespielt, die Medien veranschaulichten die damaligen Kämpfe anhand von Filmen und Augenzeugenberichten.
Für die Briten ist der D-Day das wohl bestimmende Ereignis des Zweiten Weltkriegs, „das Schlüsselereignis“, so Historiker Toby Haggith. Das liege nicht nur daran, dass die Operation extrem gut und mit langem Vorlauf geplant wurde. Nach dem Scheitern der Briten in der Schlacht von Dünkirchen eröffnete der D-Day die Möglichkeit, Rache zu üben und sich zu rehabilitieren. Dabei achteten die Bündnispartner genau darauf, dass die Invasion so genau gefilmt und fotografiert wurde wie keine Schlacht zuvor. „Hier wurde ganz bewusst Geschichte geschrieben“, sagt Haggith. Hinzu komme, dass der D-Day politisch betrachtet „eine sauber zu erzählende Story“ war und Optimismus verbreitete – anders als beispielsweise die kontroversen Ereignisse in Südostasien oder jene im Anschluss des Krieges in Europa. „Der D-Day wurde auch deshalb zum Fokus der westlichen historischen Erinnerung“, so Haggith. Erst später sei die Bedeutung der Sowjetunion anerkannt worden. Auch wenn die Westfront wichtig war, sei die Wehrmacht eben doch durch die Schlacht von Stalingrad und die Niederlage an der Ostfront entscheidend geschwächt worden.
„Nun kehren wir dem Kontinent den Rücken zu“
Haggith ist selbst an diesem Mittwoch in Portsmouth, gibt aber zu, dass der Wirbel um den Jahrestag zu einem „merkwürdigen Zeitpunkt“ komme. Das Königreich steckt im Drama um den Ausstieg aus der EU. Und viele Brexit-Gegner verweisen gerne darauf, dass die Europäische Union eben genau das sei, wofür die Alliierten am D-Day im Grunde gekämpft hätten. Die Briten trugen bei dieser Operation, die auf internationalen Zusammenhalt setzte, maßgeblich dazu bei, den Weg zu einer späteren Staatengemeinschaft zu ebnen. „Nun kehren wir in gewisser Weise dem Kontinent den Rücken zu.“
In Frankreich sind die Spuren der Landungen an der Nordküste bis heute sichtbar. Entlang des Atlantikwalls, der von den deutschen Besatzern erbauten Verteidigungslinie, stehen Überreste deutscher Bunkerbefestigungen. Teile der künstlichen Hafenanlagen aus Beton ragen noch immer aus dem Meer, über die damals Zehntausende Soldaten, Fahrzeuge und Nachschubgüter an Land gebracht wurden. Auf Militärfriedhöfen erinnern lange Reihen von überwiegend weißen Kreuzen an die rund 200 000 hier getöteten Soldaten; schwarz sind sie nur auf den deutschen Soldatenfriedhöfen. Allein 15 Museen in der Region zeichnen die Einzelheiten der Schlacht nach.
Lag der Akzent beim Gedenken in Frankreich zunächst auf der Verherrlichung der Soldaten als Helden, richtet sich der Blick seit einigen Jahren mehr auf das Schicksal der leidenden Zivilbevölkerung. Während der monatelangen Kämpfe und Bombardierungen verloren 13 600 Bürger ihr Leben. Die Stadt Caen wurde zu 80 Prozent zerstört.
Die Queen und der britische Humor
„Lange galt es wohl als unpassend zu beschreiben, dass die Alliierten, denen Frankreich die Befreiung verdankt, eben auch Tod und Zerstörung säten“, sagt Historiker Olivier Wieviorka. Bis 1984 habe das britische und amerikanische Militär das Gedenken organisiert. Erst dann machte der damalige französische Präsident François Mitterrand staatliche Feierlichkeiten daraus, zu denen er auch andere Staats- und Regierungschefs einlud. „Er betonte nicht mehr die Idee des Sieges“, so Wieviorka, „sondern verknüpfte es mit einer Botschaft des Friedens, der Versöhnung und des europäischen Aufbaus.“
Und in Großbritannien wagt es Königin Elizabeth, sogar noch ein kleines bisschen Humor hinzuzufügen. Jene Frau, die im Zweiten Weltkrieg eine Ausbildung zur Kraftfahrerin und Automechanikerin bei der Armee absolvierte, tritt am Mittwoch gewohnt farbenfroh in pinkfarbenem Mantel und passendem Hut auf. In ihrer Rede spielt die 93-Jährige auch auf ihr Alter an: „Als ich an der Gedenkfeier zum 60. Jahrestag der Landung des D-Days teilnahm, dachten einige, es könnte das letzte derartige Ereignis sein“, sagt sie. „Aber die Kriegsgeneration, meine Generation, ist widerstandsfähig – und ich freue mich, heute mit Ihnen in Portsmouth zusammen zu sein.“