Er ist der einzige Spitzenfunktionär des deutschen Sports, der sich konsequent und intensiv für ein scharfes Anti-Doping-Gesetz in Deutschland einsetzt: Clemens Prokop, Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes, dem er seit zwölf Jahren vorsteht. Erst im November wurde der 56-jährige Jurist in Dresden mit der großen Mehrheit von 94,5 Prozent für weitere vier Jahre in seinem Amt bestätigt. In den 70er Jahren gehörte Prokop als Weitspringer der Nationalmannschaft an. Seine Doktorarbeit verfasste er im Jahre 2000 zum Thema „Die Grenzen des Dopingverbots“. Heute ist er Direktor des Amtsgerichts in seiner Heimatstadt Regensburg.
In seinem Bürozimmer nahm sich Clemens Prokop Zeit für eine Rückschau auf das Sportjahr 2013 und einen Ausblick. Im Interview spricht er über die Dopingaufarbeitung in Deutschland, kritisiert den Gigantismus im internationalen Sport und verblüfft mit Visionen: Olympische Spiele sollten an Länder und nicht mehr nur an Städte vergeben werden.
Frage: Herr Prokop, die Aufarbeitung der deutschen Dopingvergangenheit hat das Jahr 2013 sportpolitisch mitgeprägt und dazu geführt, dass die Bundesregierung ein Anti-Doping-Gesetz mit Besitzstrafbarkeit von Dopingmitteln auf den Weg bringt. Wieso ziert sich der deutsche Sport bei der Unterstützung?
Clemens Prokop: Es ist tatsächlich so, dass die Politik in der Dopingbekämpfung dem Sport davongelaufen ist. Wohl unter dem Eindruck dieser vorauseilenden Politik hat die DOSB-Mitgliederversammlung im Dezember mehrheitlich beschlossen, eine Strafbarkeit von dopenden Sportlern erstmals grundsätzlich zu befürworten, allerdings nicht in Bezug auf die Besitzstrafbarkeit. Der Sport hat sich bewegt, er ist aber immer noch hinter den politischen Zielen der Koalitionsparteien zurückgeblieben. Das bedauere ich sehr, weil ich glaube, dass der Sport als Hauptbetroffener und Hauptnutznießer der Dopingbekämpfung an vorderster Front stehen müsste.
Der DOSB unter Thomas Bach hat stets um die Autonomie und Effizienz der Sportgerichtsbarkeit gefürchtet. Teilen Sie diese Bedenken?
Prokop: Überhaupt nicht. Es handelt sich um zwei verschiedene Verfahren, und dass diese Parallelität funktioniert, zeigt sich seit Jahrzehnten im Fußball. Wenn dort ein schweres Foul mit einer Körperverletzung als Folge geschieht, dann steht auf der einen Seite die Sportgerichtsbarkeit des DFB, die den Spieler mit einer Sperre belegen kann, und daneben kommt der Staatsanwalt und ermittelt. Genauso wenig gäbe es Probleme bei der Dopingbekämpfung. Im Gegenteil: Die Sportgerichtsbarkeit könnte von den staatlichen Ermittlungen sogar profitieren.
War der deutsche Sport durch Bachs internationale Ambitionen zuletzt gelähmt?
Prokop: Es gibt jedenfalls viel zu tun. Auf der Mitgliederversammlung des DOSB habe ich immer wieder das Wort vom Handlungsbedarf gehört. Im Leistungssport, bei der Positionierung im Anti-Doping-Kampf und die finanzielle Ausstattung der Nada wurden beispielsweise als Baustellen benannt. Es scheint also in der Vergangenheit das eine oder andere Problem noch nicht gelöst worden zu sein.
Waren Sie überrascht von der Dimension der westdeutschen Dopingforschung bereits in den 60er und 70er Jahren?
Prokop: Einige Fakten waren mir unbekannt. Erschreckt hat mich die Bestätigung, dass es Netzwerke in Westdeutschland gegeben hat, die offensichtlich Systemdoping betrieben haben. Aber es war klar, dass die Darstellung von der heilen Welt im Westen nicht zutraf. Es gab Doping in West und Ost. Mit dem Unterschied, dass es im Osten mit staatlicher Förderung und Systematisierung erfolgt ist und im Westen eher über Netzwerke in Dopinginseln betrieben wurde. Was der Verwerflichkeit des Geschehens keinen Abbruch tut.
Bislang wurde nur die Zeit bis 1990 erforscht . . .
Prokop: Richtig, und die Konsequenz muss sein, die letzte Phase bis heute jetzt auch zu erforschen. Es macht ja keinen Sinn, mit der Wiedervereinigung einen historischen Bruch in der Aufarbeitung zu ziehen. Die Aufarbeitung der 70er Jahre hat historischen Wert und daraus können Lehren für die Zukunft gezogen werden. Aber je näher ich an der Gegenwart bin, desto spannender sind die Rückschlüsse. Lange Rede, kurzer Sinn: Die letzte Periode muss so schnell wie möglich aufgearbeitet werden.
Sie waren in den 70er Jahren selbst Leistungssportler in der Leichtathletik. Ist Ihnen Doping jemals begegnet?
Prokop: Nur am Rande. Mir ist manchmal in der Umkleidekabine aufgefallen, dass Sportler bestimmter Disziplinen vor Wettkämpfen Tabletten genommen haben. Ob das Dopingmittel waren? Natürlich gab es Gerüchte. Aber ich war vermutlich zu weit von der absoluten Spitze weg, um hautnah eingebunden gewesen zu sein. Und nach der Dopingstudie ist auch davon auszugehen, dass viele Top-Athleten im Westen kein Doping praktiziert haben, so dass es auch keine Zwangsläufigkeit des Kontaktes gab.
Wenn Sie auf Ihre Leichtathletik heute blicken: Wie hoch ist da der Reinheitsgrad?
Prokop: Ich habe gelernt, nie für jemanden die Hand ins Feuer zu legen. Andererseits haben wir in der deutschen Leichtathletik das dichteste Kontrollnetz. 2012 hatten wir 1465 Trainingskontrollen. Zum Vergleich: Im Fußball waren es 500. Das zeigt, wie ernst wir Trainingskontrollen nehmen. Gefreut hat mich auch, dass kein deutscher Leichtathlet dabei war, als ein Kölner Labor vor einigen Wochen mit neuen Nachweismethoden viele Sportler nachträglich des Dopings überführt hat. Ob die deutsche Leichtathletik aber zu 100 Prozent sauber ist, wäre Spekulation. Ich denke aber schon, dass der DLV eine der Speerspitzen im Anti-Doping-Kampf ist.
Was tun Sie konkret?
Prokop: Um nur einiges zu nennen: Wir beginnen damit, dass wir Antidopingbotschafter in die Vereine schicken, um dort bereits die Jugendlichen davon zu überzeugen, dass im Sport die absolute Leistung nicht alles ist. Dass Leistung nur dann einen Wert besitzt, wenn sie auf einer ethischen Basis erfolgt. In Anti-Doping-Schulungen klären wir unsere Trainer über arbeitsrechtliche Szenarien auf: Wer mit unerlaubten Mitteln kämpft, fliegt raus und wird strafrechtlich verfolgt. Da gibt es keine Rücksichtnahme. Wichtig ist uns auch das Prinzip der dualen Karriere im Leistungssport. Ein Athlet sollte nicht alles auf die Lebenskarte sportlicher Erfolg setzen, sondern sich ein zweites Standbein aufbauen. Das mindert die existenzielle Abhängigkeit. Die größte Gefahr für Sportler ist es, wenn sie keine Alternative haben. Dann ist der Erfolg die Existenzgrundlage und die Gefahr groß, dass man diesen Erfolg um jeden Preis sucht.
Muss auch unsere Gesellschaft lernen, Erfolg anders zu definieren?
Prokop: Eine schwierige Frage. Das Problem beginnt damit, dass die staatliche Sportförderung erfolgsabhängig ist. Sportverbände sind somit mehr oder weniger zum sportlichen Erfolg verdammt, wenn sie eine entsprechende finanzielle Ausstattung haben wollen. Das kann man kritisieren, aber ich sehe kaum eine realistische Alternative. Anderseits berichten die Medien zu eindimensional. Es ist außerhalb des Fußballs für den deutschen Sport sehr schwierig, überhaupt wahrgenommen zu werden. Das geht nur über absolute Erfolge. Bedauerlich ist, dass in den Medien kaum differenziert wird, was die internationale Konkurrenzsituation angeht. Ich will keinen Sportler kleinreden, aber es gibt Sportarten, die werden nur in einigen Ländern, und Sportarten, die werden weltweit betrieben. Dieses Wissen, dass manchmal bereits eine Finalteilnahme bei Olympischen Spielen eine absolut außergewöhnliche Leistung darstellt, müsste sich konsequenterweise in der Berichterstattung auch wiederfinden. Die Fokussierung auf eine Goldmedaille wird vielen Sportlern nicht gerecht.
In der Tat ist der Fußball hierzulande dominant wie vielleicht noch nie. Glauben Sie, der Diskuswerfer Robert Harting wäre zum Sportler des Jahres gewählt worden, wenn er nicht seine Trikots zerfetzen und manch flotten Spruch sagen würde?
Prokop: Das können Ihre Kollegen besser beantworten. Sicher wird beim Sportler des Jahres auch ein Gesamtkunstwerk gewählt. Trotzdem hat uns das Ergebnis sehr gefreut. Interessant fand ich, dass Harting vor dem Formel-1-Weltmeister Sebastian Vettel gewählt wurde. Wenn ich die internationale Dimension nehme, ist Vettel eine herausragende deutsche Sportpersönlichkeit. Dass deutsche Sportjournalisten trotzdem Harting höher bewerteten, war für mich eine bemerkenswerte Entscheidung. Aber es reicht nicht, einmal im Jahr Persönlichkeiten einer Sportart hervorzuheben. Entscheidend sind für die Wertigkeit einer Sportart die Meldungen das Jahr über. Da gibt es Dinge, die ärgern mich zutiefst. Nehmen wir die ARD-Sportschau am Samstagabend. Die verdient nicht den Namen Sportschau, sie müsste Fußballschau heißen. Wir haben Folgendes erlebt: Betty Heidler hat an einem Samstag einen Weltrekord geworfen, das wurde in der Sportschau nicht einmal erwähnt. Das ist aber kein Einzelschicksal. Außer Fußball kommt in diesem Format nichts vor. Da geht ein Stück Kultur verloren. Es würde die Konzeption dieser Sendung nicht auflösen, wenn ein Nachrichtenblock von fünf Minuten mit Ereignissen von anderen Sportarten vorkäme.
Hat der Sport nicht selbst dazu beigetragen, dass der gesellschaftliche Stellenwert gesunken ist?
Prokop: Der Stellenwert des Sports in unserer Gesellschaft ist unverändert sehr hoch. Für viele Zuschauer ist Sport sogar zu einer Art Ersatzreligion geworden, gerade im Fußball. Auf der anderen Seite treiben viele Menschen selbst aktiv Sport. Sport ist ein soziales Phänomen, das die Gesellschaft so sehr beeinflusst und beeindruckt wie kaum ein anderes. Aber dass teilweise ein Veränderungsprozess läuft, bewies die missglückte Olympiabewerbung Münchens. Projekte des Sports sind kein Selbstläufer mehr, die nur durchgewunken werden. Nein, der Sport muss um seine gesellschaftliche Legitimation kämpfen.
Ist der Gigantismus im Sport zu groß geworden?
Prokop: Die Kommerzialisierung treibt tatsächlich Blüten und kann zur Gefahr werden. Der Sport muss dann aufpassen, nicht die Bodenhaftung zu verlieren. Wenn ich manchmal beim Fußball erlebe, dass Zuschauer sich mehr in der VIP-Loge als auf den Rängen aufhalten, dann läuft etwas verkehrt. Andererseits: Wenn ich Sport auch als Wirtschaftsgut begreife, geht es ohne Kommerzialisierung nicht. Der FC Bayern München hätte nicht diese außergewöhnlichen Spieler, wenn er nicht ein exzellentes Marketingkonzept fahren würde. Irgendwie müssen die Gehälter am Monatsende ja bezahlt werden. Größer sehe ich die Gefahr tatsächlich im internationalen Bereich. Eine Fußball-WM nach Katar zu vergeben, halte ich für eine ganz gefährliche Entscheidung der FIFA, weil diese offenkundig nicht an den zentralen Interessen des Sports ausgerichtet ist.
Ähnliche Kritik muss das IOC für die Vergabe der Winterspiele 2014 an Sotschi einstecken. Verstehen Sie Bundespräsident Joachim Gauck, wenn er Olympia keinen Besuch abstattet?
Prokop: Er hat sich ja mit einer Begründung bedeckt gehalten.
Aber lässt nicht gerade das den Schluss zu, dass er die Vergabe an Sotschi bewusst kritisiert? Andernfalls hätte er doch eine Begründung geliefert.
Prokop: Sein Schweigen kann zumindest den Eindruck erwecken, dass Spekulationen, die die Absage mit dem Veranstaltungsort in Zusammenhang sehen, zutreffend sind. Ich verstehe, wenn Sportler, die vier Jahre für Olympia trainiert haben, von der Entscheidung des Bundespräsidenten enttäuscht sind. Entscheidend könnten Probleme der Menschenrechte und des Umgangs mit Minderheiten gewesen sein. Aber ich halte es auch für skurril, Olympische Winterspiele in Sotschi durchzuführen, wo fast ein Mittelmeerklima herrscht. Sollten die Berichte über massive Umweltzerstörungen dort ebenfalls zutreffen, schadet diese Vergabe der Glaubwürdigkeit des Sports aus mehreren Gründen.
Kann man Respekt nur durch einen Besuch ausdrücken? Manchmal scheint es, so eine Reise solle eher dem Politiker dienen als dem Sportler.
Prokop: Wenn der Bundespräsident nach der Rückkehr einen Empfang durchführt, dann ist das eine schöne Geste, mit der er Anerkennung und Respekt ausdrückt.
Ist diese Glaubwürdigkeitskrise auch dafür verantwortlich, dass die Bürger den Winterspielen in München eine Abfuhr erteilt haben?
Prokop: Ich glaube schon, dass dieses negative Image des IOC, das von den Gegnern genutzt worden ist, Wirkung zeigt. Dazu kommt, dass Vergabeentscheidungen wie etwa für Sotschi für den unbefangenen Betrachter wenig transparent sind.
Was könnte Olympia in Deutschland bewirken?
Prokop: Die Spiele sind eine phantastische Plattform für Länder, ähnlich wie eine Fußball-WM. Wir haben es ja 2006 erlebt, welche Euphorie das ganze Land erfasst hat. Olympische Spiele haben eine enorme integrative Wirkung. Sportereignisse dieser Größenordnung sind ein Mittel, um ein nationales Wir-Gefühl zu entwickeln. Auch würden staatliche und privatwirtschaftliche Finanzmittel ansteigen, so könnten die Spiele ein Motor für den Sport über Jahre hinweg sein.
Welche deutschen Städte könnten Olympische Spiele ausrichten?
Prokop: Realistisch betrachtet: nur Berlin und Hamburg. Wieso aber müssen Olympische Spiele auf einen Austragungsort reduziert werden? Inzwischen ist die Mobilität so groß, dass man durchaus auch Olympische Spiele an Regionen oder ganze Länder vergeben könnte. Übertragen auf Deutschland hieße das: Wassersportveranstaltungen fänden an der Nord- oder Ostsee statt, zentrale Stadionwettbewerbe in Berlin und Kajakrennen in Augsburg oder Reiten vielleicht in Aachen.
Ein interessanter Gedanke. Aber würde dadurch nicht der viel beschworene Geist der Spiele im Olympischen Dorf verloren gehen?
Prokop: Nicht zwingend. Ich glaube, dass die zentrale Wirkung der Olympischen Spiele nicht verloren gehen würde. Die Sportler können sich ja vor und nach ihren Wettkämpfen im Olympischen Dorf aufhalten. Das Feeling ist einholbar. Wenn man die Konzeption ändert und dem Gigantismus abschwört, könnte man auch ohne teure Neubauten für Sportstätten auskommen, für die es oft anschließend keine nachhaltige Nutzung gibt.