Es war ein Schock, nach all den Jahren, in denen sie sich eins wähnte mit den Grünen wie wenige sonst. Als Claudia Roth im November vergangenen Jahres bei der Urwahl der Spitzenkandidaten für die Bundestagswahl nur Vierte und Letzte wurde, war das für sie nicht nur eine politische Niederlage, sondern auch eine sehr persönliche. Ein Wochenende lang verkroch sich die Grünen-Chefin in ihrer Wohnung, zweifelte, zögerte – und entschied sich dann doch, weiterzumachen. „Ich gratuliere von Herzen Jürgen Trittin und Katrin Göring-Eckardt“, schrieb sie damals bei Facebook. „Das ist Demokratie.“
Ein knappes Jahr später kosten sie die ungeschriebenen Gesetze der Demokratie nun doch ihr Amt. In einer Partei, die so weit an ihren eigenen Wahlzielen vorbeigeschrammt ist wie die Grünen am vergangenen Sonntag, kann nicht alles bleiben, wie es ist. Anders als ihr Mitvorsitzender Cem Özdemir, der im November noch einmal antreten will, räumt Claudia Roth deshalb nach kurzer Bedenkzeit ihren Platz an der Grünen-Spitze – freiwillig, mit einem Lächeln im Gesicht und einem neuen Ziel: Sie will Vizepräsidentin des Bundestages werden.
„Ich glaube, jetzt ist der richtige Zeitpunkt für eine Neuausrichtung“, sagt die 58-Jährige. „Nach elfeinhalb Jahren Vorsitz ist ein Wechsel durchaus angebracht.“ Den Grünen sei es nicht gelungen, aus gesellschaftlichen Mehrheiten wie der gegen das Betreuungsgeld oder der für den Mindestlohn auch eine politische Mehrheit zu organisieren. Und das bedeute, fügt sie selbstkritisch hinzu, „dass auch bei mir etwas nicht so gut gelaufen ist.“
Wo andere zunächst noch zögern, Jürgen Trittin zum Beispiel, schafft Claudia Roth Fakten, auch auf die Gefahr hin, sich noch einmal eine Niederlage einzuhandeln. Die scheidende Fraktionschefin Renate Künast, mit der sie seit Jahren eine tief sitzende Abneigung verbindet, spekuliert auf den gleichen Posten im Parlamentspräsidium.
Wer immer der Augsburger Abgeordneten jetzt in der Parteizentrale folgt: Die Latte liegt hoch. Nicht viele Oppositionspolitiker sind so präsent, nicht viele Grüne so gut in der Partei vernetzt wie sie. Auch wenn der TV-Zyniker Harald Schmidt sie wegen ihrer temperamentvollen, aufgekratzten Art vor Jahren schon als „Eichhörnchen auf Ecstasy“ verhöhnte und „Der Spiegel“ sie als „Emotionsbombe“ abqualifizierte: Die grüne Basis hat sie vielleicht nicht für die perfekte Spitzenkandidatin gehalten, lässt auf ihre Claudia sonst aber so schnell nichts kommen. Keine Reise in die Provinz ist ihr zu beschwerlich, kein Ortsverein zu klein, kein Thema zu unbedeutend. Unter weitgehender Preisgabe ihres Privatlebens hat sich die Tochter eines Zahnarztes und einer Lehrerin aus Babenhausen im Unterallgäu für ihre Partei zeitweise schier unentbehrlich gemacht – häufig kritisiert für ihr gefühliges Auftreten, aber als Rednerin, Talkshow-Gast und Wahlkämpferin auch häufiger gebucht als viele andere Spitzengrüne.
„Ich bin nicht die Frontfrau irgendeiner Strömung“, hat die ehemalige Managerin der Kultband „Ton, Steine, Scherben“ bei ihrer ersten Kandidatur im März 2001 in Stuttgart versprochen. Mehr als 91 Prozent der Stimmen bekam die Frau damals, der Jutta Ditfurth einst „großbürgerliches Gehabe“ unterstellte, weil sie keine selbst gestrickten Schlabberpullis trug, sondern Stöckelschuhe und Schmuck. Tatsächlich ist Claudia Roth noch immer eine ausgewiesene Linke, die mit politisch Andersdenkenden wie dem CSU-Veteranen Günther Beckstein oder dem früheren DFB-Präsidenten Theo Zwanziger zwar eng befreundet sein kann, deren Fantasie aber noch nicht so recht ausreichen mag, um sich ein schwarz-grünes Regierungsbündnis mit Angela Merkel und Horst Seehofer vorzustellen. „Wir sind nicht der Ersatz für einen abhandengekommenen Koalitionspartner“, wehrt sie ab.
In die Politik gekommen ist die bekannteste Grüne der Republik – wie Angela Merkel auch – als Pressesprecherin. 1985 bewarb sie sich auf eine Annonce der grünen Bundestagsfraktion in der alternativen „tageszeitung“, vier Jahre später war sie bereits Abgeordnete im Europaparlament, wurde dort rasch Fraktionsvorsitzende und 1998 schließlich Mitglied des Bundestages. Sollte Claudia Roth nun tatsächlich in dessen Präsidium aufrücken, wird sie ihr Temperament allerdings etwas zügeln müssen. So staatstragend-seriös, wie es dort zugeht, kennen die Grünen ihre scheidende Vorsitzende bisher noch nicht.