Wie in einem Agententhriller ist die Ausreise des einst reichsten Mannes und bis zuletzt prominentesten politischen Gefangenen Russlands nach Deutschland inszeniert. Abflug per Helikopter, weiter mit einem Privatjet, auch ein Pass und das nötige Visum liegen schon bereit – staunend verfolgt Russland jede Wendung im Fall Michail Chodorkowski.
In Deutschland will der schärfste Kritiker von Kremlchef Wladimir Putin nach offiziellen russischen Angaben seine krebskranke Mutter treffen. Die ist aber noch in Russland, sagt sie selbst. Überhaupt wirken die Eltern völlig überrascht. Sie richten aus, sie hätten ihren Mischa in der russischen Hauptstadt erwartet. Auch Tochter Anastassija Chodorkowskaja gibt noch Interviews in Moskau.
Von Putins plötzlicher Milde profitiert derweil nicht nur der frühere Öl-Milliardär. Auch andere Gegner lässt Putin im Zuge einer Massenamnestie auf freien Fuß setzen, schon bald sollen die beiden inhaftierten Punkmusikerinnen der kremlkritischen Band Pussy Riot folgen. Ihre Verwandten sind bereits in die Straflager gereist.
Signale an den Westen
Doch Kritiker des früheren Geheimdienstchefs Putin vermuten hinter diesen Zugeständnissen an den Westen nicht viel mehr als geschickte Winkelzüge. Der Druck auf Russland war angesichts eines kritischen Dauerfeuers von Menschenrechtlern an der Lage im Land enorm. Immer mehr westliche Politiker verzichten auf Reisen zu den ersten Olympischen Winterspielen in Russland, die am 7. Februar beginnen. Im Schwarzmeerort Sotschi hat Putin alles für einen in der olympischen Geschichte einmaligen Aufwand herrichten lassen – ein Spektakel der Superlative, mit Kosten von mindestens 37,5 Milliarden Euro.
Nun sind die Signale an den Westen unübersehbar: Auf Drängen des Internationalen Olympischen Komitees IOC lässt Putin ein Demonstrationsverbot in Sotschi aufheben, das während der Wettbewerbe gelten sollte. Diese Woche dann die Massenamnestie für seine in Straflager verbannten Gegnerinnen der Punkband Pussy Riot und für Umweltschützer der Organisation Greenpeace. Die Reaktion auf die Gnadenerlasse ist prompt, und sie fällt so aus, wie wohl von Putin gewünscht. Lob von der Bundesregierung, allen voran von Kanzlerin Angela Merkel, die sich immer auch für Chodorkowskis Freilassung einsetzte. Der Fall des 50-Jährigen, der Putin einst kritisierte, dann in Haft kam und zur Galionsfigur der Andersdenkenden in Russland wurde, gilt jedoch als mit Abstand stärkstes Zugeständnis.
Und viele fragen sich, ob Putin tatsächlich die Zügel lockert. Oder wird mit dem Erlöschen des Olympischen Feuers alles vorbei sein? Immerhin sind die vielen vom Westen kritisierten Gesetze weiter in Kraft – gegen Nichtregierungsorganisationen, gegen die Opposition, gegen Homosexuelle. Die Staatsduma verabschiedet im Trubel erneut ein umstrittenes Gesetz. So macht sich strafbar, wer Unabhängigkeitsbestrebungen russischer Regionen unterstützt.
Freiheit gegen Exil?
Auch halten sich in Moskau Gerüchte über eine Abmachung der Erzfeinde. So vermutet der prominente Politologe Dmitri Trenin vom Carnegie Center in Moskau, dass Chodorkowski seine Freiheit gegen Exil im Ausland eintauschen musste. Zur Hoffnung auf eine echte politische Wende in Russland sehen Kommentatoren keinen Grund. Mit einem klaren „Nein“ im Leitartikel antwortete „Wedomosti“ sich selbst auf die Frage, ob Chodorkowskis Freiheit nun auch für Russland eine neue Zeit bedeute.
Es gelte weiter das Recht des Stärkeren in Russland, wo Sicherheitsorgane anscheinend oft alles dürfen, und Bürger sich in ihren Freiheiten zunehmend eingeschränkt sehen. Für Putin sei Chodorkowskis Gnadengesuch eine „Kapitulation“, betont das Blatt. Der Kremlchef benutze ihn nur, um sein eigenes Image zu bessern, vor Olympia seine Kritiker zu beruhigen – und der wirtschaftlichen Stagnation einen möglichen Impuls zu geben. Seinen Gegner, so das Fazit der Analysten, habe er in einen echten „Trumpf“ verwandelt.
Der Fall Chodorkowski
25. Oktober 2003: Michail Chodorkowski, Chef des Yukos-Ölkonzerns, wird in Nowosibirsk festgenommen. Die Justiz wirft dem Multimilliardär Betrug und Steuerhinterziehung vor.
16. Juni 2004: In Moskau beginnt der erste Prozess gegen Chodorkowski. Die Verteidigung wirft dem Kreml vor, er steuere das Verfahren, weil der Yukos-Chef in Opposition zu Präsident Wladimir Putin gegangen sei.
16. Mai 2005: Chodorkowski wird unter anderem wegen schweren Betrugs und Bildung einer kriminellen Vereinigung zu neun Jahren Straflager verurteilt.
15. November 2007: Der Yukos-Konzern wird nach seiner Zerschlagung und dem Verkauf der Teile aus Russlands Handelsregister gelöscht.
8. März 2008: Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) spricht sich bei einem Treffen mit Putin in Moskau für Chodorkowskis Begnadigung aus.
31. März 2009: In Moskau beginnt der zweite Prozess gegen Chodorkowski. Die Verteidigung nennt die Vorwürfe der Unterschlagung von 218 Millionen Tonnen Erdöl „absurd und unlogisch“. 4. März 2010: Vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) fordern ehemalige Yukos-Eigentümer von Russland 98 Milliarden Dollar Schadensersatz. Sie werfen Moskau unrechtmäßige Zwangsenteignung vor. 30. Dezember 2010: Ein Gericht verurteilt Chodorkowski unter Einbeziehung der ersten Strafe zu insgesamt 14 Jahren Haft. Es folgen Strafnachlässe.
31. Mai 2011: Der EGMR lehnt Chodorkowskis Klage ab, wonach das erste Verfahren gegen ihn politisch motiviert gewesen sei.
25. Oktober 2013: Zum zehnten Jahrestag seiner Inhaftierung fordern Menschenrechtler Chodorkowskis Freilassung.
6. Dezember 2013: Russlands Justiz bestätigt erstmals, dass wegen Geldwäsche ein weiteres Verfahren gegen den Kremlgegner geplant ist.
20. Dezember 2013: Wladimir Putin begnadigt Chodorkowski. Text: dpa