Xi Jinping lehnt sich lässig im Sitz nach hinten. Er hört nur zu. Auch wenn der neue starke Mann Chinas die zweitgrößte Volkswirtschaft die nächsten zehn Jahre durch eine höchst ungewisse Zukunft steuern muss – der 59-Jährige lässt sich die Last nicht anmerken. Anspannung ist zum Auftakt der Jahrestagung des Volkskongresses nur bei seinem gewöhnlich steifen Vorgänger Hu Jintao und dem scheidenden Regierungschef Wen Jiabao zu spüren, die nach zehn Jahren ihren letzten großen Auftritt haben.
Konzentriert schreitet der 70-jährige Wen Jiabao auf das Podium mit den roten Fahnen im Hintergrund. Er verbeugt sich ehrerbietig vor den alten und neuen Führern am langen Tisch unter dem rot-goldenen Staatswappen, dann vor den knapp 3000 Delegierten in der Großen Halle des Volkes. Nach zehn Jahren im Amt hält der Ministerpräsident seinen letzten Rechenschaftsbericht. „Opa Wen“ gibt sich gern als bescheidener Diener des Volkes, erweckte fälschlicherweise den Eindruck eines politischen Reformers. Deswegen kanzeln ihn Kritiker heute als „Chinas größten Schauspieler“ ab.
Sein Erbe: Ein Wirtschaftswachstum, das er selbst als „unausgewogen, unkoordiniert und nicht aufrechtzuerhalten“ bezeichnet. Oder eine Gesellschaft, die sich zwar „sozialistisch“ nennt, aber einen ausbeuterischen Kapitalismus betreibt, der die Kluft zwischen Arm und Reich in beispiellosem Maße auseinanderklaffen lässt. Seiner Vision einer „gemäßigt wohlhabenden Gesellschaft“ folgt unter der neuen Führungsgeneration die ehrgeizige Idee vom „chinesischen Traum“, den der neue Führer Xi Jinping nun beschwört. Die Delegierten des Volkskongresses verstehen vielerlei darunter: Ein mächtiges, blühendes China, ein hoher Lebensstandard, wirtschaftliche Entwicklung oder „eine starke Landesverteidigung“, wie der Abgeordnete Kong Lingzhi sagt. „Die große Wiederauferstehung der chinesischen Nation.“
Vor einem solchen Aufstieg zur Großmacht fürchten sich die asiatischen Nachbarn, mit denen China um Inseln und Rohstoffe in entlegenen Seegebieten fernab der chinesischen Küste streitet. Den Machtanspruch auf Asiens Meeren verkörpert nichts deutlicher als der erste chinesische Flugzeugträger „Liaoning“. Auf der Videowand auf dem Platz des Himmlischen Friedens vor der Großen Halle des Volkes kreuzt der Flugzeugträger durch den Propagandafilm in Endlosschleife – zum Stolz von Partei und Milliardenvolk.
Seit seinem Machtantritt als Parteichef im November hat der frischgebackene Führer Xi Jinping erstmal versucht, sich als starker Militärführer hervorzutun. Die Volksbefreiungsarmee müsse ihre Kampfbereitschaft verbessern: „Die Fähigkeit, Schlachten zu schlagen und zu gewinnen, hat höchste Priorität für das Militär“, postuliert der neue Oberkommandierende. Da wundert es kaum, dass die Verteidigungsausgaben in seinem ersten Amtsjahr mit 10,7 Prozent wieder zweistellig und überdurchschnittlich wachsen, obwohl die Staatskasse längst nicht mehr sprudelt und das Defizit steigt.