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BERLIN/CHEMNITZ
Chemnitz zwischen Trauer und Angst
Martin Ferber
Martin Ferber
 |  aktualisiert: 02.04.2019 11:52 Uhr

Angesichts der aufgeheizten Stimmung war es kein leichter Gang für Franziska Giffey. Als erstes Mitglied der Bundesregierung kam die SPD-Familienministerin nach Chemnitz und sprach von einem „zutiefst emotionalen Erlebnis“, nachdem sie an jenem Ort Blumen niederlegte, an dem ein 35-jährigen Chemnitzer erstochen wurde, mutmaßlich von zwei Flüchtlingen gemeinsam. Die beredte Brandenburgerin Giffey suchte sorgsam nach den richtigen Worten, nachdem den die Bluttat nicht nur die Bürger der Stadt Chemnitz spaltet: „Wir stehen zusammen dafür, dass Chemnitz und Sachsen mehr sind als brauner Mob“, sagte die 40-Jährige.

Giffey erinnerte daran, wie sie es selbst vor ihrer Bezirksbürgermeisterzeit in Berlin-Neukölln erlebt hat, wie es ist wenn eine bundesweite Skandalstimmung über die Menschen hinwegfegt: Damals vor zwölf Jahren wurde die Rütli-Hauptschule durch einen öffentlichen „Brandbrief“ von Pädagogen bundesweites Symbol einer Problemschule. Danach unternahmen die Verantwortlichen alles, um die Schule zu einer Art Vorzeigeeinrichtung zu machen. Auch jetzt müsse es in Chemnitz zum „Rütli-Schwur“ kommen, sagte Giffey und versprach Hilfe, auch dann alle Kameras weg seien und die Situation wieder ruhiger sei: „Wir handeln, gehen hin, hören zu, wir verurteilen niemanden.“

Doch von einer versöhnlichen Krisenbewältigung ist Chemnitz weit entfernt. Dabei ist es sicher auch wenig hilfreich, dass die Staatsanwaltschaft zu den Hintergründen der Tat weiter schweigt, weshalb die Spekulationen weiter Hochkonjunktur haben. Die Polizei hatte von einem Streit zwischen zwei Männergruppen berichtet. Es gibt Spekulationen, dass der Messerattacke entweder eine Auseinandersetzung um Zigaretten oder ein versuchter EC-Kartenraub vorausgegangen war.

Anfangs kursierte auch das Gerücht, dass es kurz vor der Tat eine Sexualstraftat gegeben hatte, bei der das spätere Opfer eingeschritten sein soll. „Derzeit spricht nichts für diese Version – und alle anderen Spekulationen kommentieren wir nicht“, sagt eine Sprecherin der Staatsanwaltschaft knapp. Immerhin erklärt die Behörde, dass die mutmaßlichen Täter – ein 22 Jahre alter Iraker und ein 23-jähriger – nicht aus Notwehr gehandelt hätten.

Die tödlichen Messerstiche hatten sich am Sonntagmorgen gegen 3 Uhr am Rande des Chemnitzer Stadtfestes ereignet. Inzwischen wurde bekannt, dass der Irak bereits 2016 hätte abgeschoben werden sollen. All diese ungeklärten Vorgänge tragen auch mit dazu bei, dass Chemnitz nicht zur Ruhe kommt. Das ganze Wochenende sind verschiedene Demonstrationen geplant. Unter dem Motto „Herz statt Hetze“ will am Samstagnachmittag ein breites Bündnis gegen Fremdenfeindlichkeit demonstrieren, dazu haben sich auch Bundespolitiker wie SPD-Vizechefin Manuela Schwesig, Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch und die Grünen-Vorsitzende Annalena Baerbock angekündigt. Doch auch die rechtsextreme Organisation Pro Chemnitz rief zu Protesten auf. Zugleich riefen die AfD-Landesverbände Thüringen, Brandenburg und Sachsen gemeinsam mit der Dresdner Pegida zu einem „Schweigemarsch“ in Chemnitz auf. Vorne weg hat AfD-Rechtsaußen und Thüringer Landeschef Björn Höcke sein Kommen angekündigt.

Das Verhalten diverser AfD-Politiker angesichts der ausländerfeindlichen Krawallen von Chemnitz ruft immer schärfere Kritik hervor: „Diese Partei entwickelt sich in Richtung Rechtsextremismus“, sagte CDU-Vizechef und Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl. Er will sich noch nicht definitiv festlegen, ob die AfD seiner Meinung nach künftig vom Verfassungsschutz beobachtet werden soll, meinte aber: „Die Beteiligung der AfD an den Vorgängen in Chemnitz schafft neue Fakten. Ich bin ganz sicher, dass diese Fakten in die Lageeinschätzung einfließen.“

Weiter geht der SPD-Innenexperte Burkhard Lischka: „Ich fordere schon seit längerem, dass der Verfassungsschutz zumindest Teile der AfD beobachtet, die offen den Schulterschluss mit rechtsextremistischen Gruppierungen wie der Identitären Bewegung praktizieren. Wer über Jahre hinweg Teile der Linken beobachtet, darf nicht auf dem rechten Auge wegsehen.“

Auch der Grünen-Fraktionsvize Konstantin von Notz sagt „Man kann der AfD beim Extremisieren zugucken.“ Reden, Forderungen und Bündnispartner, „alles rutscht im weiter ins völkisch-rechtsextreme Umfeld“. Es gebe inzwischen auch Landesämter für Verfassungsschutz, die Argumente für eine Beobachtung vortragen, berichtet der Innenexperte. „Diese Argumente überzeugen mich.“ Mit Informationen von dpa und AFP

 
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