(dpa/afp) Nach der Befreiung von über 400 Kindern aus einem Heim im Westen Mexikos kommen immer mehr Details über die menschenunwürdigen Zustände in der Einrichtung ans Licht. So seien die Kinder zur Strafe für lange Zeit ohne Essen und Trinken in eine sechs Quadratmeter große Zelle eingesperrt worden, sagte der Chefermittler der Generalstaatsanwaltschaft, Tomás Zerón, auf einer Pressekonferenz am Mittwoch.
Soldaten und Polizisten hatten am Vortag 597 Menschen aus dem Internat in Zamora im Bundesstaat Michoacán geholt (wir berichteten). 438 von ihnen sind minderjährig, sechs davon im Babyalter. Die Gründerin des Heimes „La Gran Familia“ („Die große Familie“) sowie acht Mitarbeiter wurden festgenommen. Heimleiterin Rosa del Carmen Verduzco wird Freiheitsberaubung vorgeworfen. „Die Bewohner haben unter unmenschlichen Bedingungen gelebt“, sagte Zerón.
Vorwürfe aus dem Jahr 2010
So hätten die Ermittler rund 20 Tonnen Müll in den Schlaf- und Speisesälen des Heims entdeckt. Die Kinder seien zum Betteln gezwungen worden, hätten sich von verfaulten Lebensmitteln ernähren müssen und auf dem Boden zwischen Insekten und Ratten geschlafen.
Zudem hätten die Kinder von sexuellem Missbrauch berichtet, sagte Zerón. Ein Mann habe sie zu Oralsex gezwungen. Sollten sie sich weigern, werde er sie töten und ihre Organe verkaufen, habe er gedroht.
Auch Erwachsene im Alter von 18 bis 40 Jahren seien gegen ihren Willen festgehalten worden. So habe eine der befreiten Frauen der Polizei berichtet, sie habe die Einrichtung mit 18 Jahren verlassen wollen, sei aber 13 weitere Jahre festgehalten worden. In dieser Zeit brachte die Frau nach eigenen Angaben zwei Kinder zur Welt. Diese seien ihr weggenommen worden. Heimgründerin Verduzco ließ zahlreiche Neugeborene bei den Behörden auf ihren Namen registrieren.
Zwar waren bereits 2010 Vorwürfe gegen „La Gran Familia“ laut geworden, doch in Michoacán galt Verduzco als angesehene Frau. Sie traf die damaligen Präsidenten Vicente Fox (2000-2006) und Felipe Calderón (2006-2012) und erhielt für ihre soziale Arbeit viele Auszeichnungen. „Mamá Rosa, ich bin solidarisch mit dir. Ich weiß, dass du stark bist, und ich weiß um all das Gute, das du für Tausende Kinder und Jugendliche getan hast“, schrieb Ex-Präsident Fox am Mittwoch auf Twitter. „Habe Mut. Ich schicke dir eine feste Umarmung.“
Die Institution in Zamora existiert seit 40 Jahren und genoss einen guten Ruf als Einrichtung, die Kindern aus armen Verhältnissen eine behütete Umgebung bietet. Eine junge Frau sagte laut Chefermittler Zerón, sie sei von einem Angestellten des Heims vergewaltigt worden. Als sie schwanger geworden sei, habe er sie verprügelt, „um eine Fehlgeburt auszulösen“. Fernando Román, ein 20-jähriger Musiklehrer, der elf Jahre in dem Heim lebte, sagte, Fluchtversuche seien mit einwöchiger Einzelhaft bestraft worden – in einem Badezimmer und ohne Nahrung. Auch Schläge hätten zum Alltag gehört.
Gleichwohl nannte Román die Vorwürfe gegen Heimleiterin Verduzco „krass übertrieben“ und bezeichnete die Strafen als angemessen.