Als am Donnerstag kurz vor Mitternacht die ersten Nachrichten vom überwältigenden Sieg der britischen Konservativen in Brüssel eintrafen, bastelten die 27 Staats- und Regierungschefs noch an ihrer Einigung zur Klimaneutralität ab 2050 herum. Wer auch immer noch an ein Weihnachtswunder in London geglaubt hatte, sah sich nun mit der nüchternen Realität konfrontiert. Nur wenige Stunden später hatten die EU-Staatenlenker ihre Enttäuschung und Betroffenheit über den nun absehbaren Brexit überwunden und richteten den Blick nach vorne.
„Wir wenden uns jetzt den Verhandlungen zu, die kompliziert genug werden“, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) am Freitag in Brüssel. „Großbritannien wird ein Drittstaat, mit dem uns aber sehr viel verbindet“. Es gehe um eine „sehr spezielle Partnerschaft“. Im Schlussdokument des Gipfeltreffens heißt es, man wolle ein „Gleichgewicht aus Rechten und Pflichten“. Zu einem Wettlauf um möglichst niedrige Standards bei den künftigen Handelsbeziehungen solle es nicht kommen.
Auf „Verhandlungshektik“ eingerichtet
In Brüssel, wo der bisherige Brexit-Chefunterhändler Michel Barnier bereits mit den neuen Verhandlungen beauftragt wurde, richtet man sich auf „Verhandlungshektik“ ein, wie es ein hochrangiger EU-Diplomat formulierte. Denn die vereinbarte Übergangsfrist, die nach dem Austritt am 31. Januar 2020 beginnt, endet schon am 31. Dezember. Sollte absehbar sein, dass man nicht fertig wird, schreibt der bisherige Deal zwischen London und Brüssel einen Antrag auf Verlängerung bis zum 1. Juli vor.
Dies will Premierminister Boris Johnson aber auf jeden Fall verhindern. Die Absicht, innerhalb so kurzer Zeit ein Handelsabkommen fertig zu stellen, sei „enorm ehrgeizig“, meinte der irische Regierungschef Leo Varadkar. „Wir müssen sehr schnell machen“, betonte auch Merkel, wohl wissend, dass das eine große Herausforderung ist. Schließlich müssen die beiden Partner von der Fischerei über die Cybersicherheit bis hin zu Einreiseformalitäten und Arbeitnehmerrechten alles klären, was die Briten bisher als Mitglied der Europäischen Union automatisch übernommen haben.
Ein großer Beitragszahler fehlt künftig
Die EU steht darüber hinaus noch vor einem weiteren Problem. Denn ihr fehlt künftig einer der größten Beitragszahler. Der frühere Haushaltskommissar Günther Oettinger hatte das Loch im Etat auf jährlich rund zwölf Milliarden Euro beziffert. Um diese Lücke zu schließen, sollen die Mitgliedstaaten etwa 50 Prozent des fehlenden Betrags bei den Subventionen einsparen und die andere Hälfte durch höhere Beiträge auffangen. Schon jetzt fürchten die Staats- und Regierungschefs die Reaktion ihrer Bauern und der Kommunen. Denn Oettingers Vorschlag sah Kürzungen in diesen Bereichen von jeweils rund fünf Prozent vor. Weder für eine Aufstockung der finanziellen Mittel noch für Einschnitte gibt es bisher genügend Unterstützung aus dem Kreis der Mitgliedstaaten.
„Die Ausrede, dass es keine Mehrheit in London mehr gibt, die zieht jetzt nicht mehr“, fasste der luxemburgische Premier Xavier Bettel die Lage nach dem Wahlergebnis zusammen. Auch wenn die Staats- und Regierungschefs in Brüssel immer noch betonten, wie sehr sie den Austritt des Vereinigten Königreiches aus der Europäischen Union bedauern – irgendwie schienen sie trotzdem erleichtert zu sein, dass das endlose Gezerre bald ein Ende hat. Selbst wenn sie dann nur noch 27 sind.