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Brief an den russischen Freund
reda
 |  aktualisiert: 03.03.2015 19:27 Uhr

Towarischtsch Boris Jefimowitsch Weißt Du noch? Rund um uns beide war Schnee, so weiß, wie er in Moskau niemals sein wird. Zusammen mit gemeinsamen Freunden bewegten wir uns im Zeitlupentempo auf den Gipfel des Elbrus. Für Dich mit 5642 Metern der höchste Berg Europas. Wir waren oft mit Freunden in den Bergen in Tirol und Oberbayern unterwegs und redeten uns die Köpfe heiß, aber nie in solchen kalten Zonen wie damals im Kaukasus. Unsere Körper schalteten mangels Sauerstoffversorgung auf Notversorgung um. „Wir müssen es schaffen“, kam es leise, aber bestimmend aus Deinem Mund. Das war vor viereinhalb Jahren.

Jetzt wurdest Du beerdigt und ich bin tief traurig, weil ich einen Freund verloren habe.

Ich sehe fassungslos die Bilder, die sich um die Welt verbreiten. Feige hat Dich der Täter direkt vor den Augen des Kremls niedergeschossen. Deine Augen sind noch nicht geschlossen. Du liegst einsam auf dem Rücken und schaust in den Nachthimmel Moskaus. In Deinem Gesicht lese ich die Überraschung, weil Du, entgegen anderslautender Vermutungen, nämlich nicht mit Deiner Ermordung gerechnet hast.

Die geäußerte Befürchtung, dass sie Dich töten würden, war kalkulierte Koketterie auf Deinem Logenplatz des Polit-Zirkus und angstloses Zeichen für Deine Feinde. Davon hattest Du viele im politischen Umfeld und in Kenntnis dessen versuchten Deine Freunde und ich, Dich mehrmals zu einem Umzug ins Ausland zu bewegen. London, Paris, Kitzbühel oder irgendwo am Strand. Du hättest im temporären Exil ein sorgenfreies Leben führen können wie viele Deiner Weggefährten, aber Du bliebst, um die Massendemonstrationen gegen Wahlfälschung, den Krieg in der Ukraine und für mehr Demokratie zu organisieren. Deswegen steckten sich Dich immer wieder kurzzeitig ins Gefängnis.

Dein Arzt war besorgt und mahnte, besser auf Dich aufzupassen. Du wurdest nicht müde. Zwar sagt man dem russischen Volk gern eine Neigung zur Schwermut nach – mit Dir lachte ich. Dein naiver Optimismus war ein Überlebenselixier. „Ich liebe die Menschen und ich liebe dieses Land,“ hast Du mir als Grund genannt, warum Du in Russland bleiben wolltest. Fast alle Deine Freunde fuhren in dunklen Limousinen mit Fahrer und bewaffnetem Leibwächter. Du gingst im Stadtzentrum von Moskau zu Fuß, hattest keine Statussymbole, aber dafür ein offenes Ohr für die Sorgen Deiner Mitmenschen.

Du strahltest Sicherheit aus, weil Du Dich sicher fühltest. Warum auch nicht. Oder? Dein Netzwerk war solide und sollte Dich schützen. Die Kontakte gingen tief ins politische Establishment von England und den USA. Du warst als Berater von Julia Timoschenko tätig, gern gesehener Gast transatlantischer Thinktanks. Ein guter Freund war der Lebensgefährte der Patentochter Putins, Dein Lieblingsgegner. Du hast mit offenem Visier gekämpft. Deine Mörder nicht. Weißt Du noch? Auf unserer Wanderung im Kaukasus wurdest Du in den entlegensten Dörfern um Autogramme gebeten. Ich sah, dass sie stolz auf Dich waren und Du Ihnen als Vizeministerpräsident der russischen Föderation in guter Erinnerung geblieben warst. Du wolltest der Politiker zum Anfassen sein und hast angepackt, wo andere reden. Meine Gespräche mit Dir auf unseren Expeditionen waren für mich die Röntgenaufnahme des politischen Betriebs in Russland. Zwei Schritte vorwärts – einmal atmen – wieder zwei Schritte vorwärts. Im Schneckentempo auf den König der Berge. Das war so wie Deine zähe Oppositionspolitik in Russland. Man braucht viel Kondition. Für diese Bergbesteigung hattest Du nicht extra trainiert. In einer Mischung aus Mut und Naivität bist Du mitgekommen. Kraftvoll, wie Du warst und neugierig auf die Grenzerfahrung. Unsere Blutgefäße weiteten sich und Puls und Atem wurden schneller.

Dort im Süden Russlands auf dem Elbrus oben in einer Wüste von Schnee und Geröll schwand damals nicht nur unser Urteilsvermögen, sondern zuletzt auch die Übersicht – Eigenschaften, auf die Du sonst zählen konntest. Stunden später waren wir am Gipfel.

Diesen Gipfelsieg feiertest Du nicht laut, weil Du wusstest, dass der Gipfel immer nur die Hälfte des Weges markiert. Auf dem Rückweg bricht unsere kleine Gruppe auseinander. Wir suchen in einer Steinhöhle Schutz vor dem Schneesturm. Während ich in diesem Augenblick zu resignieren drohte, warst Du vom guten Ausgang überzeugt. Plötzlich fielst Du in Deine Rolle, wie damals als Gouverneur von Nischni Nowgorod, und riefst mit Bass und Empörung in das Funkgerät. „Hier spricht Boris Nemzov. Wir brauchen Hilfe“. Ausnahmsweise hörte Dir da mal keiner zu.

Lieber Boris, Deine Stimme wird all denen in lebendiger Erinnerung bleiben, die an die Machbarkeit des Unmöglichen glauben. Deine unerschütterliche Zuversicht hat mich tief beeindruckt. Jahre später bist Du auf dem Kilimandscharo am Krater umgekehrt, ohne den Gipfel erreicht zu haben und hast mir damit gezeigt, dass Du Deine Grenzen kennst.

Ich will nicht glauben, dass Du Sie jetzt erreicht hast.

Dein Jan-Philipp

Jan-Philipp Möller, 37, ist freischaffender Reporter. Nach Bamberg kam er zum Studium der Germanistik, Journalistik und Psychologie. Er arbeitete mehrere Jahre in Moskau. Mit dem russischen Oppositionspolitiker Boris Nemzow verband ihn eine Freundschaft und die gemeinsame Leidenschaft zum Bergsteigen.

 
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