Ein bärtiger Mann mit einem Megafon könnte nach dem schlimmsten Terroranschlag in der Geschichte der Türkei zu einer Schlüsselfigur bei der Aufklärung des Verbrechens werden. Nach Augenzeugenberichten dirigierte der Bärtige am Samstag auf dem Bahnhofsvorplatz der Hauptstadt Ankara kurdische Aktivisten per Durchsage an jene Stelle, an der wenig später eine der beiden Bomben explodierte. Die Kurden glaubten offenbar, der Mann sei ein Ordner, doch er war möglicherweise ein Komplize der Selbstmordattentäter: Zeugen sagten laut Presseberichten, unmittelbar vor der Explosion der Bomben von Ankara, die vermutlich über 100 Menschen töteten, sei der arabische Ruf „Allahu ekber“ – Gott ist groß – zu hören gewesen. Ermittler nehmen potenzielle Täter aus den Reihen der Dschihadisten-Miliz Islamischer Staat (IS) ins Visier.
Dieser Verdacht bestätigt Befürchtungen von Beobachtern. Der IS greife kurdische und linke Gruppen in der Türkei an, weil er diese als Ungläubige betrachte und weil er die Kurden in Nordsyrien schwächen wolle, sagte der Terrorexperte Nihat Ali Özcan dieser Redaktion. „Der IS hat in Ankara zugeschlagen, weil in den kommenden Tagen eine Offensive der USA und der Kurden bei Raqqa erwartet wird“, sagte Özcan, der bei der Denkfabrik Tepav in Ankara arbeitet. Raqqa ist die Hauptstadt des vom IS ausgerufenen „Kalifats“ in Syrien. Der Syrienkonflikt greife immer mehr auf die Türkei über, sagte Özcan: „Willkommen im Nahen Osten.“
In Ankara steht der 25-jährige Yunus Emre Alagöz aus dem nordosttürkischen Adiyaman im Mittelpunkt des Interesses der Ermittler. Alagöz sprengte sich möglicherweise nach dem Megafon-Aufruf des unbekannten Bärtigen mitten in der Menschenmenge in die Luft; die zweite Bombe wurde laut Medienberichten von einer Frau gezündet. Alagöz ist der Bruder jenes Mannes, der am 20. Juli in der Stadt Suruc an der syrischen Grenze eine Selbstmordweste zündete und mehr als 30 kurdische und linke Aktivisten mit in den Tod riss. Die Brüder Alagöz sollen beim IS in Syrien den Bombenbau gelernt haben.
Nach dem Anschlag von Ankara verlautete aus Ermittlerkreisen, die verwendeten Bomben – TNT-Sprengstoff mit Metallkugeln – glichen dem Sprengsatz von Suruc. Damals hatte die türkische Regierung den IS für die Bluttat verantwortlich gemacht. Weitere fünf potenzielle IS-Selbstmordattentäter sollen sich derzeit noch in der Türkei aufhalten und „auf Befehle warten“, wie die Zeitung „Habertürk“ meldete. Schon in den Tagen vor der Katastrophe von Ankara kursierten bei türkischen Sicherheitsbehörden offenbar Warnungen vor möglichen Selbstmordattentätern. Dies wiederum verstärkt die Kritik an den Behörden: Warum wurden die Veranstalter der Demo vom Samstag nicht gewarnt? „Ganz offensichtlich und ohne jede Diskussion liegen geheimdienstliche Mängel vor“, sagte Cevat Önes, ein früherer Vizechef des Geheimdienstes MIT, der Zeitung „Zaman“.
Kritiker vermuten, dass es um mehr geht als nur um Pannen beim MIT und der Polizei. Sie werfen dem Staat vor, in das Blutbad verwickelt gewesen zu sein. „Der Staat ist ein Mörder“, riefen Tausende Demonstranten, die am Samstagabend in Istanbul gegen die angebliche Mitschuld der Behörden auf die Straße gingen. Bei einer Trauerkundgebung am Sonntag in Ankara lieferten sich Polizisten und Demonstranten gewalttätige Auseinandersetzungen.
Kurdenpolitiker verstärkten unterdessen ihre Vorwürfe an die Behörden. Der Chef der Kurdenpartei HDP, Selahattin Demirtas, betonte, dass der türkische Sicherheitsapparat von jeder kleiner Protestaktion in Ankara wisse, aber das „Massaker“ nicht verhindert habe. Demirtas sprach von 128 Todesopfern und rief die Türken auf, bei der Parlamentswahl am 1. November die Regierung abzustrafen.
Die brutale Gewalt, das Fehlen eines demokratischen Konsenses in Ankara und die vielfach kritisierte Willkür der Regierung lassen die Türkei immer mehr einem krisengeschüttelten Nahost-Staat gleichen: Der Syrien-Konflikt destabilisiert den nördlichen Nachbarn und Nato-Staat. „Der Krieg zwischen dem IS und den Kurden in Syrien greift auf die Türkei über“, schrieb der angesehene Kolumnist und Islam-Experte Mustafa Akyol auf Twitter.
Sicherheitsexperte Özcan betonte, auch andere Konfliktpotenziale des Syrien-Konflikts seien eine Gefahr für die Türkei. Einige Türken hätten sich El-Kaida-Gruppen in Syrien angeschlossen, andere kämpften für regierungstreue Milizen auf der Seite von Präsident Baschar al-Assad. „Und sie alle tragen den Krieg in die Türkei“, sagte er.
Auch in der türkischen Führung wird diese Gefahr gesehen. Die Türkei werde alleine nicht mehr mit der Lage in Syrien fertig, sagte ein hochrangiger Regierungsvertreter, der nicht genannt werden will. EU, Nato und der Westen insgesamt müssten etwas tun und Verantwortung übernehmen.
Für die türkische Politik in Nahost, die Lage in der Region insgesamt, aber auch für Probleme wie den Kurdenkonflikt in der Türkei selbst habe sich der Krieg in Syrien wie ein Fluch ausgewirkt, sagte der Regierungsvertreter: „Syrien hat alles vergiftet.“
Tödliche Anschläge in der Türkei
In der Türkei haben extremistische Gruppen schon viele Menschen bei Anschlägen getötet. Einige Fälle aus jüngster Zeit: September 2015: Bei einem schweren Bombenanschlag in Igdir in der Osttürkei werden zwölf Polizeibeamte getötet. Zuvor starben bei einem Angriff der verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei PKK und Gefechten im südosttürkischen Daglica in der türkischen Provinz Hakkari 16 Soldaten der türkischen Armee. August 2015: Bei einem Bombenanschlag und einem anschließenden Angriff auf eine Polizeiwache in der Millionenmetropole Istanbul werden mindestens vier Menschen getötet. Zwei Frauen greifen zudem das US-Konsulat in Istanbul an, eine der beiden Frauen wird festgenommen. Sie soll Mitglied der linksextremen Terrororganisation DHKP-C sein. Juli 2015: Im südtürkischen Grenzort Suruc reißt ein Selbstmordattentäter während einer Kundgebung 33 pro-kurdische Aktivisten mit in den Tod.
Die türkischen Behörden machen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) verantwortlich, die sich allerdings nie zu der Tat bekennt. Juni 2015: Zwei Tage vor den türkischen Parlamentswahlen verüben Unbekannte in der südosttürkischen Kurden-Metropole Diyarbakir einen Sprengstoffanschlag, der einer Veranstaltung der pro-kurdischen Oppositionspartei HDP gilt. Bei dem Attentat in Diyarbakir sterben mindestens vier Menschen sterben. Mai 2013: Bei der Explosion zweier Autobomben in der Grenzstadt Reyhanli werden mehr als 50 Menschen getötet. Die Regierung beschuldigt türkische Linksextremisten mit Kontakten zum Regime im benachbarten Syrien. September 2011: In der türkischen Hauptstadt Ankara sterben drei Menschen, als im Regierungsviertel eine Bombe explodiert. Eine Splittergruppe der PKK bekennt sich zur Tat. Text: dpa