Die Straßen waren mit Leichen gepflastert. Die islamistischen Fanatiker der Boko Haram brannten Häuser nieder und töteten eine schwangere Frau ebenso wie zahlreiche Kinder. Mädchen und junge Frauen wurden verschleppt, wahrscheinlich um sie zwangsweise zu verheiraten oder als Sklaven zu halten. Durch solche Berichte Überlebender werden die Gräueltaten und das Ausmaß der jüngsten Großoffensive der Terrororganisation Boko Haram im Nordosten Nigerias immer deutlicher.
„Ich weiß nicht, wie viele es waren, aber es lagen Leichen, wo auch immer wir hinschauten“, gab die Menschenrechtsorganisation Amnesty International eine Augenzeugin wieder. Auch fast zwei Wochen nach Beginn des Angriffs der sunnitischen Fundamentalisten auf die Stadt Baga ist immer noch unklar, wie viele Hundert Menschen in der abgelegenen und umkämpften Region umgebracht wurden. „Ich habe zu dem Zeitpunkt vielleicht 100 Tote in Baga gesehen“, sagte ein etwa 50-Jähriger Amnesty zufolge. „Ich bin in den Busch gerannt. Während wir rannten, schossen und töteten sie weiter.“
Nach den Anschlägen auf das Satiremagazin „Charlie Hebdo“ und ein jüdisches Geschäft in Paris rückt der Kampf gegen islamistischen Terrorismus auch in Europa wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Syrien, Jemen, Irak, Pakistan – das sind die Länder, die in diesem Zusammenhang meist genannt werden. Nigeria wird dagegen eher als fernes afrikanisches Problem gesehen. Doch manche Experten warnen, dass sich Boko Haram wie die Terrorgruppe Islamischer Staat im Nahen Osten zu einer Bedrohung über Nigeria hinaus ausweiten könnte.
Bis vor kurzem konzentrierte sich die Gruppe auf den Nordosten Nigerias, doch nun werden die Nachbarländer Tschad und Kamerun immer tiefer in den Konflikt hineingezogen. Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini warnte, Europa dürfe „neben der Debatte um die Bedrohung unserer eigenen Sicherheit nicht aus den Augen verlieren, welche große terroristische Bedrohung“ Boko Haram darstelle. Kamerun ruft die internationale Gemeinschaft um Hilfe, doch Nigeria verbittet sich eine Einmischung von außen.
Der ölreiche westafrikanische Staat ist stolz darauf, sowohl das bevölkerungsreichste Land als auch die größte Volkswirtschaft des Kontinents zu sein. Doch im Kampf gegen Boko Haram erscheint die Regierung des christlichen Präsidenten Goodluck Jonathan hilflos. In seiner Amtszeit seit 2010 ist die Gruppe immer brutaler geworden und kontrolliert im Nordosten schon ganze Landstriche. Schätzungen zufolge sind bei ihren Anschlägen und Angriffen seit 2009 mehr als 15 000 Menschen getötet worden. Nach UN-Angaben ist seither rund eine Million Menschen in andere Landesteile oder Nachbarländer geflohen.
Der Angriff auf Baga verdeutlicht zum einen, wie ambitioniert die Gruppe inzwischen vorgeht bei der Eroberung weiterer Gebiete für ihren geplanten islamischen Gottesstaat. Zum anderen zeigt die Offensive, dass Boko Haram zur Machtsicherung auf eine Politik der verbrannten Erde setzt. Und das nicht im sprichwörtlichen Sinn: Am Donnerstag veröffentlichte Satellitenbilder belegen laut Amnesty, dass allein in zwei Orten rund 3700 Gebäude niedergebrannt wurden. Das Dorf Doron Baga, wo Boko Haram einen nigerianischen Militärstützpunkt überrannte, wurde Amnesty zufolge praktisch „von der Landkarte getilgt“.
Die Massaker im Norden erschüttern ganz Nigeria. Doch im Vorfeld der Präsidentschaftswahl am 14. Februar überziehen sich der Amtsinhaber und sein muslimischer Herausforderer Muhammadu Buhari vor allem mit Schuldzuweisungen. Wie der Staat Boko Haram Einhalt gebieten will, hat noch kein Kandidat schlüssig dargelegt. Der Kampf um Baga geht unterdessen weiter. Die Streitkräfte versprechen, sie würden den „Barbaren in Baga“ keinen Zentimeter des Landes überlassen und die Stadt zurückerobern – oder zumindest das, was davon übrig ist.
„Ich bin in den Busch
gerannt. Während wir rannten, schossen und töteten sie weiter.“
Bewohner der
überfallenen Stadt Baga