Seev Mor kann immer noch nicht glauben, dass der Krieg in seine Heimatstadt gekommen ist. Bisher wähnte der 23 Jahre alte Lehrer sich im Städtchen Kiriat Malachi, 30 Kilometer nördlich vom Gazastreifen, stets in Sicherheit. Bis Donnerstagmorgen eine Rakete der Hamas in der obersten Etage des vierstöckigen Hauses direkt nebenan einschlug, drei Nachbarn tötete und mehrere andere verletzte: „Nach der Explosion liefen wir alle aus dem Bunker raus, ich fand ein blutendes, weinendes Mädchen und rief sofort einen Krankenwagen“, berichtet Mor unserer Zeitung. „Andere Kinder reden vor lauter Schreck gar nicht mehr.“
Auf israelischer Seite starben drei Menschen durch palästinensische Raketen, im Gazastreifen kamen 15 Menschen durch israelische Luftangriffe ums Leben – darunter zwei Kinder und eine schwangere Frau. Mit der Operation „Säule der Verteidigung“ will Premier Benjamin Netanjahu die radikal-islamische Hamas im Gazastreifen abschrecken und dem Süden seines Landes nach Jahren andauernden Raketenbeschusses wieder Ruhe bescheren.
Doch vorerst sah die Operation aus wie ein ausgewachsener Krieg. Alle paar Minuten heulten in Israels Städten die Luftschutzsirenen auf: „Seit Mittwochabend allein hier in Beer Scheba 17 Mal“, sagt Ifat Cohen. Die 26 Jahre alte Psychologiestudentin verließ ihre Wohnung, um zu ihren Eltern nach Tel Aviv zu flüchten: „Eigentlich wollte ich die Stadt nicht verlassen, wollte hier eine Nacht verbringen und erst einmal abwarten. Aber die ständigen Sirenen und Explosionen zerrütten meine Nerven. Ich gehe.“ So wie Tausende andere, die an Bus- und Bahnhöfen Schlange standen, um aus den beschossenen Städten gen Norden zu fliehen. Auch in Gaza herrschte Panik. Menschen tätigten in aller Eile Hamsterkäufe, tankten ihre Fahrzeuge voll und suchten Schutz vor zig israelischen Luftangriffen, die laut Angaben der Armee in erster Linie der militärischen Infrastruktur der Hamas galten.
Seit Jahren nahm Israel den gelegentlichen Beschuss seiner Ortschaften hin. Doch in vergangenen Wochen stieg die Zahl der abgeschossenen Raketen und Granaten aus Gaza stark an. Mehr als 1000 Geschosse gingen seit Jahresbeginn auf Israel nieder. Hinzu kamen zunehmend gewagte Grenzverletzungen durch palästinensische Terrororganisationen.
Israel Verteidigungsminister Ehud Barak erläuterte die Motivation, ausgerechnet jetzt die riskante Militäraktion gegen die Hamas zu beginnen, Israels größte seit dem zweiten Libanonkrieg 2009: „Wir wollen keinen Krieg. Aber die andauernden Provokationen der Hamas, besonders der stete Beschuss israelischer Ortschaften mit Raketen, ein Sprengstofftunnel, der tief in israelischem Staatsgebiet explodierte, die Panzerfaust, die auf eine Grenzpatrouille – ebenfalls in israelischem Staatsgebiet – abgeschossen wurde, zwangen uns zum Handeln“, sagte Barak. Ziel der Aktion sei es deswegen „unsere Abschreckung wiederherzustellen, und der Fähigkeit, Raketen abzuschießen, empfindlichen Schaden zuzufügen.“
Der in eine große palästinensische Flagge eingewickelte Leichnam, den gestern Tausende Palästinenser durch die engen Gassen des Flüchtlingslagers Jebaliyah trugen, war Beweis dafür, dass der Versuch, die Hamas zu schwächen, gelungen scheint. Ahmed al-Dschabari, Militärchef der Hamas, galt manchen als mächtigster Mann in Gaza, und als ärgster Feind der Israelis.
Dschabari war persönlich für verheerende Attentate verantwortlich und die treibende Kraft hinter der Reorganisation der al-Kassam-Brigaden, des bewaffneten Arms der Hamas. Unter seiner Führung wandelten sie sich von einer Ansammlung von Terrorzellen in eine geordnete Streitkraft von rund 10 000 Mann. Seine gezielte Tötung war am Mittwoch Auftakt der Operation „Säule der Verteidigung“. Bis Donnerstagmittag flog Israels Luftwaffe mehr als 160 Einsätze, laut eigenen Angaben hauptsächlich gegen Waffenfabriken und Raketendepots. Dabei kamen mindestens elf Palästinenser ums Leben, in der Mehrheit bewaffnete Aktivisten. Palästinensische Organisationen hielten den schweren Beschuss Israels aufrecht. Laut inoffiziellen Angaben setzte die Hamas dabei auch erstmals Raketen ein, die mit Phosphor bestückt waren. Phosphor führt zu schweren Verbrennungen.
Die Mehrheit der israelischen Bevölkerung und die Opposition unterstützt die Regierung: „Ich bin keine Netanjahu-Anhängerin, aber ich glaube, er handelt richtig“, sagt die Studentin Dohen: „Unter ständigem Raketenbeschuss zu leben ist keine Alternative. Wir brauchen Abschreckung. Das ist pure Verteidigung.“ Auch der Lehrer Mor sieht keine Alternative: „Wir haben keine andere Wahl. Ich unterstütze Netanjahu und hoffe nur, dass er ganze Arbeit macht und Gaza erobert.“
Genau das schien Israels Regierung vorzubereiten. Schon am Mittwoch begann sie, Reservisten einzuziehen und Truppen rund um Gaza zu konzentrieren: „Das ist erst der Anfang“, warnten Regierungsquellen einheitlich im Gespräch mit dieser Zeitung. Absicht scheint zu sein, die Hamas so lange unter Druck zu setzen, bis sie aus eigener Initiative einen Waffenstillstand erbittet. Doch die Islamisten scheinen dem Bruchpunkt noch fern zu sein: Sie schworen Rache und Krieg – und schossen weiterhin Raketen ab.
Der Gazastreifen
Die rund 1,7 Millionen Palästinenser im Gazastreifen leiden unter Gewalt und Armut. Der dicht bevölkerte Küstenstreifen am Mittelmeer ist mit seinen etwa 360 Quadratkilometern kleiner als das Land Bremen. Ein Großteil der Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze, mehr als die Hälfte ist auf Zuwendungen internationaler Hilfsorganisationen angewiesen. Offiziell ist ein Drittel der Bevölkerung arbeitslos. 1967 besetzte Israel das bis dahin von Ägypten verwaltete Gebiet und begann mit dem Bau jüdischer Siedlungen. 2005 räumte Israel die Siedlungen und zog seine Soldaten ab. 2006 überfiel die radikal-islamische Hamas einen israelischen Militärstützpunkt am Rand des Gazastreifens und nahm den Soldaten Gilad Schalit als Geisel. Als Reaktion und wegen dauernder Raketenangriffe aus dem Gebiet verhängte Israel eine Blockade. Schalit wurde im Oktober 2011 freigelassen. Nach dem Sieg über die Fatah-Bewegung des Palästinenserpräsidenten Mahmud Abbas bei den Parlamentswahlen übernahm die Hamas 2007 gewaltsam die Kontrolle des Gazastreifens. Israel erklärte diesen zum „feindlichen Gebiet“ und verschärfte das Embargo. Mit vereinzelten Lockerungen wird es bis heute aufrechterhalten. Text: dpa