Es waren schockierende Zahlen, mit denen Frank-Walter Steinmeier konfrontiert wurde, als er Ende August kurz in Kabul war. Seit dem Abzug der internationalen Kampftruppen Ende vergangenen Jahres sind bereits mehr als 4000 afghanische Soldaten und Polizisten im Kampf gegen die Taliban gefallen, und auch dem deutschen Außenminister selbst war die Lage offenbar etwas zu heikel. Er übernachtete nicht in Kabul, sondern flog gleich weiter nach Pakistan. Dort sind die Hotels sicherer.
Kundus, die Provinzhauptstadt im Norden, galt lange Zeit als vergleichsweise friedliche Adresse. Spätestens mit dem Angriff der Taliban am Montag aber hat sich die Lage auch dort radikal verändert. Regelrecht überrannt hätten die Islamisten den Ort, sagt Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen, und dass die Lage „besorgniserregend“ sei. An einen schnellen Rückzug, soll das wohl heißen, ist jetzt nicht mehr zu denken. Schon vor dem Angriff auf Kundus hatte die Ministerin in einem Interview vor einem voreiligen Ende der Mission gewarnt: „Andere Beispiele, insbesondere der Irak, haben uns gezeigt, was passieren kann, wenn der Truppenabzug zu früh erfolgt.“
Nach den Ereignissen in Kundus ist es zwischen Union und SPD weitgehend unstrittig, dass die eigentlich bis Dezember befristete Mission noch einmal verlängert wird, möglicherweise sogar über das Jahr 2016 hinaus. Entscheiden aber kann das die Bundesregierung nicht alleine, sondern nur gemeinsam mit den anderen Nato-Partnern, die sich zur Mission „Resolute Support“ zusammengeschlossen haben – einem Verbund von 13 000 Soldaten, die nach dem Rückzug der internationalen Kampftruppen Ende 2014 vor allem ein Ziel haben: die afghanische Armee so auszubilden, dass die sich irgendwann selbst helfen kann. Deutschland stellt dafür 850 Soldaten. Zum Vergleich: In den Spitzenzeiten des Afghanistan-Einsatzes waren es mehr als 5000.
Bis vor zwei Jahren war die Bundeswehr in Kundus für die Sicherheit in der Region zuständig – umstrittene Einsätze, wie den von einem deutschen Offizier befohlenen Angriff amerikanischer Kampfjets auf zwei von Taliban entführte Tanklaster mit eingeschlossen, bei dem auch viele Zivilisten ums Leben kamen. Wie kein anderer Ort steht Kundus damit für den Realitätsschock, dem sich die Bundeswehr in Afghanistan stellen musste. Zum ersten Mal seit 1945 zogen deutsche Truppen hier wieder in einen Krieg, insgesamt starben in Afghanistan mehr als 50 Soldaten der Bundeswehr.
„Das war eine Zäsur“, sagte der damalige Verteidigungsminister Thomas de Maiziere, als er das Feldlager in Kundus der afghanischen Armee übergab. Nun allerdings sieht es so aus, als wäre möglicherweise alles umsonst gewesen: 14 Jahre nach ihrer Entmachtung sind die Taliban wieder zurück, und das ist nicht nur für Afghanistan ein Problem.
„Es geht hier nicht nur um Kundus, es geht hier auch um die langen Schlangen vor den afghanischen Passbehörden“, sagt der SPD-Verteidigungsexperte Karl-Heinz Brunner. Angesichts der anhaltend hohen Flüchtlingszahlen habe Deutschland ein besonderes Interesse, dass sich die Lage dort wieder stabilisiere. Nach den Syrern sind die Afghanen inzwischen die größte Gruppe von Flüchtlingen, die in Europa Schutz und Sicherheit suchen.
Das gegenwärtige Mandat des Bundestages erlaubt den Einsatz von bis zu 850 Soldaten, die vor allem als Berater und Ausbilder der afghanischen Streitkräfte eingesetzt sind. Vom Angriff der Taliban auf Kundus seien diese offenbar „kalt erwischt“ worden, betonte der SPD-Verteidigungsexperte Karl-Heinz Brunner gegenüber dieser Redaktion. Da Armee und Polizei des Landes noch nicht in der Lage seien, solche Situationen selbst zu meistern, spreche vieles für eine Verlängerung der Ausbildungsmission.
Nach dem Fall von Kundus haben afghanische Regierungstruppen eine Gegenoffensive zur Vertreibung der Taliban aus der Provinzhauptstadt begonnen. Präsident Aschraf Ghani kündigte an, Kundus werde zurückerobert. „Ich versichere der Nation, dass alles unternommen wird, die Kontrolle über die Stadt zurückzugewinnen“, sagte Ghani am Dienstag in Kabul. Zusätzliche Soldaten und Spezialkräfte seien in Kundus eingetroffen. Mit Informationen von dpa