In der Kabine ist kein Halten mehr. „Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin.“ Was für eine Botschaft, was für ein Signal an die Fans in der Heimat. Die Jungs, die eben im legendären Maracana-Stadion in Rio de Janeiro Geschichte geschrieben haben, als erste europäische Mannschaft in Südamerika Fußball-Weltmeister geworden sind, nach 24 Jahren den vierten Titel für Deutschland geholt haben, träumen im Augenblick des größten Triumphes schon von ihrer Fahrt nach Berlin und dem Fest mit ihren Fans. Sie hüpfen im Kreis, sie liegen sich in den Armen und singen lautstark „Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin.“
Keine 36 Stunden später ist der Wunsch Realität. Es ist 10.21 Uhr, als sich am Flughafen Tegel die Kabinentür des „Siegerfliegers“ B 747-8 Potsdam der „Fanhansa“ öffnet und Kapitän Philipp Lahm mit dem goldenen Pokal des Weltmeisters in der Hand den Flieger verlässt, gefolgt von Bastian Schweinsteiger, der sich in eine schwarz-rot-goldene Flagge gehüllt hat. Die Weltmeister sind in Berlin. Wenige Minuten zuvor hat der Jumbo in 600 Metern Höhe eine Ehrenrunde über der Fanmeile gedreht, dabei mit den Tragflächen gewackelt und somit die Ankunft der Stars angekündigt. Die Stimmung könnte besser nicht sein, auch wenn die Weltmeister, ihre Trainer und Betreuer nach einer langen Siegesfeier und einem ebenso langen Nachtflug reichlich unausgeschlafen sind, die Ringe unter ihren Augen teilweise hinter dunklen Sonnenbrillen verbergen und dermaßen heiser sind, dass sie kaum noch einen Ton herausbringen. Es sei einfach schön – „vor allem mit dem Ding da“, sagt Lahm mit Blick auf den Pokal, den er gar nicht mehr hergeben will. Und Stürmerkollege André Schürrle schwärmt: „Das fühlt sich alles sehr gut an. Wir sind bereit für die Fanmeile.“
Ein Fest in Schwarz-Rot-Gold. Berlin ist im Ausnahmezustand. Die Stadt steht Kopf, nichts geht mehr. Schon um sechs Uhr morgens öffnen sich die Tore der Fanmeile, die ersten Fans, die zum Teil in der Nacht aus ganz Deutschland angereist sind, strömen auf die Straße des 17. Juni. Unter ihnen auch Christian und Marius aus Frankfurt im Trikot der Nationalmannschaft, die sich am Abend zuvor spontan auf den Weg in die Hauptstadt gemacht haben. „Es ist der absolute Wahnsinn, unglaublich“, jubeln die beiden, die beim Gewinn der letzten Weltmeisterschaft im Jahr 1990 noch gar nicht auf der Welt waren und das Gefühl nicht kennen. Am frühen Vormittag sind die S- und U-Bahnen mit Fans in Trikots und schwarz-rot-goldenen Fahnen, Halsketten oder Wimpeln überfüllt. Die Polizei muss den Bahnhof Brandenburger Tor sperren, später auch den Zugang zur Fanmeile. „Überfüllt“, lautet der lapidare Kommentar, „nichts geht mehr.“
Doch die Fans lassen sich davon nicht beeindrucken. Zehntausende, vielleicht sogar Hunderttausende säumen den Weg vom Flughafen Tegel bis zum Brandenburger Tor und bereiten den Weltmeistern einen überwältigenden Empfang. Die Fahrt durch die Stadt, erst im geschlossenen Bus, dann die letzten drei Kilometer in einem offenen Truck, wird zum Triumphzug. Nur im Schritttempo kommt der Truck voran. Die Ausflugsdampfer der Weißen Flotte unterbrechen ihre Fahrt, bilden ein Ehrenspalier und hupen minutenlang, als am Ufer der Spree die Fußballer vorbeifahren. Regionalzüge der Deutschen Bahn halten auf freier Strecke zwischen dem Hauptbahnhof und dem Bahnhof Friedrichstraße an, damit auch die Zugfahrer einen Blick auf den Korso werfen können, Bauarbeiter lassen ihre Arbeit liegen und winken von Gerüsten den Kickern zu.
Gegen 12.30 Uhr kommen die Sieger, die schlichte schwarze Trikots mit einer großen weiß-roten „1“ tragen, am Brandenburger Tor an. Die Stimmung könnte besser kaum sein. „So seh'n Sieger aus“ und „So ein Tag, so wunderschön wie heute“, singen die Fans, die stundenlang auf diesen Moment gewartet haben. Nach dem Eintrag ins Goldene Buch der Stadt Berlin gibt es kein Halten mehr: Die Stars präsentieren sich in mehreren Gruppen auf einem 30 Meter langen Steg ihren jubelnden Anhänger, erst Bundestrainer Jogi Löw mit Hansi Flick, Andreas Köpke und Oliver Bierhoff, dann die Spieler. Löw, der nun in einer Reihe mit Sepp Herberger, Helmut Schön und Franz Beckenbauer steht, genießt den Triumph still und kontrolliert. Er habe immer das Gefühl gehabt, „sie wollten dieses Ding unbedingt gewinnen“, sagt er über die Mannschaft – und ruft den Fans zu: „Ohne Euch wären wir nicht hier. Wir sind alle Weltmeister.“ Bastian Schweinsteiger, der schon viele Feiern nach Fußball-Triumphen erlebt hat, ist sprachlos: „Unglaublich, was uns hier die Berliner Menschen für einen Empfang bereitet haben. So viele Menschen am Straßenrand, das kenn ich selbst aus München nicht.“
Dass sie nicht nur spielen, sondern auch feiern können, stellen die Fußballer eindrucksvoll unter Beweis, einträchtig liegen sich die Profis aus Bayern, Dortmund und Schalke in den Armen, vergessen sind die Rivalitäten. Auch in der Stunde des Triumphes präsentiert sich die Mannschaft wie schon während der WM als ein harmonisches Team. Jede Wohngemeinschaft im Basislager „Campo Bahia“ hat sich etwas einfallen lassen. Für einen Misston in der sonst so entspannten Feier sorgt allerdings die WG um Toni Kroos, Miroslav Klose und Mario Götze, die sich über Endspielgegner Argentinien lustig macht. „So geh'n die Gauchos, die Gauchos gehen so“, singen sie und schlürfen tief gebückt über die Bühne, um sich danach aufzurichten und zu jubeln: „So geh'n die Deutschen, die Deutschen gehen so!“ Torhüter Manuel Neuer und seine Mitbewohner machen es besser, sie triumphieren: „Die Nummer Eins der Welt sind wir“. Julian Draxler und andere amüsieren sich auf Kosten ihres Dortmunder Kollegen Kevin Großkreutz und fordern ihn auf: „Großkreutz rück den Döner raus“ – eine Anspielung darauf, dass er vor der WM einen Döner auf einen Fan geworfen haben soll. Und Kapitän Philipp Lahm und Co. tanzen wie kleine Jungs um den Goldpokal. Als kleines Kind habe er bei der WM 1990 davon geträumt, wie damals Lothar Matthäus diesen Pokal als Sieger in die Höhe stemmen zu dürfen. Nun habe es sich erfüllt. „Es ist unglaublich, was für sieben Wochen wir erlebt haben.“
In Berlin schließt sich an diesem 15. Juli ein Kreis. In der Hauptstadt, in der mit dem bis heute unvergessenen „Sommermärchen“, der Fußball-Weltmeisterschaft im eigenen Land im Jahre 2006, die Wiedergeburt des deutschen Fußballs begann, krönt sich eine goldene Spielergeneration acht Jahre später mit dem Weltmeistertitel. Jürgen Klinsmann, damals Bundestrainer, der Erneuerer des deutschen Fußballs, bezog sein Mannschaftsquartier nicht irgendwo im Lande, nicht in irgendeinem Trainingsgelände in einer abgelegenen Region, sondern in Berlin, in einem noblen Hotel im Grunewald. Berlin war das Basislager und der Rückzugsort. Spontan entschieden die Spieler um den damaligen „Capitano“ Michael Ballack, nach dem 3:1-Sieg im kleinen Finale gegen Portugal, das „Sommermärchen“ mit einer Feier auf der Fanmeile vor dem Brandenburger Tor ausklingen zu lassen. Eine halbe Million Menschen feierten damals mit.
Acht Jahre später, nach zwei dritten Plätzen bei den Weltmeisterschaften 2006 und 2010 sowie einem zweiten und dritten Platz bei den Europameisterschaften 2008 und 2012, feiern Mannschaft und Fans an gleicher Stelle den Gewinn der Weltmeisterschaft. Mehr geht nicht. Oder doch? Wie wär's mit einer Titelverteidigung 2018 in Russland? Und danach trifft man sich wieder – zur Feier auf der Berliner Fanmeile.