Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) setzt in der Diskussion über die Konsequenzen aus dem anstehenden EU-Austritt der Briten auf Einigkeit der verbleibenden 27 Mitglieder. „Es muss ein Gemeinschaftsprozess hinbekommen werden“, betonte die Kanzlerin nach Angaben von Teilnehmern in einer Sondersitzung der Unionsfraktion zum Brexit am Freitag in Berlin. Dies sei ein Gebot der Klugheit. Es sei nun wichtig, dass die verbleibenden EU-Länder beieinander blieben.
Zugleich machte Merkel demnach deutlich, dass sie keine eigene Verantwortung für den Austritt wegen ihrer Flüchtlingspolitik sehe. „Diesen Schuh ziehe ich mir nicht an“, wurde sie zitiert.
Merkel machte klar, dass sie in den kommenden Tagen öffentlich nicht mit konkreten Vorschlägen in der Austrittsdebatte hervortreten wolle, sondern auf eine gemeinsame Diskussion in der EU setze.
Die Entscheidung der Briten, der Union den Rücken zu kehren, hat für die Bundesrepublik teure Konsequenzen. Nach einer Studie des Münchner Ifo-Institutes kosten Deutschland alleine die zu erwartenden Schwierigkeiten im Handel bis zu sechs Milliarden Euro an jährlicher Wirtschaftsleistung. Sie werden danach vor allem die Autoindustrie, die Metall- und die Lebensmittelbranche treffen.
Dazu kommen geschätzte 2,5 Milliarden, die Deutschland mehr an die EU abführen muss, weil mit Großbritannien ein Land aussteigt, das bisher mehr in die gemeinsame Kasse einzahlt, als aus ihr zurückfließt.
Allerdings räumen die Gutachter des Institutes selbst ein, dass ihre Prognose angesichts der vielen nicht bezifferbaren Unwägbarkeiten mit Vorsicht zu genießen ist. Das heißt: Es kann auch noch teurer werden. „Wir erwarten in den kommenden Monaten einen deutlichen Rückgang des Geschäfts mit den Briten“, sagt der Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der deutschen Industrie, Markus Kerber. Neue deutsche Direktinvestitionen auf der Insel seien kaum zu erwarten. Insgesamt hängen nach Berechnungen des Industrie- und handelstages 750 000 Arbeitsplätze in Deutschland von den Ausfuhren ins Vereinigte Königreich ab, mehr als 2500 deutsche Unternehmen haben dort eine Niederlassung.
Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel ist denn auch der erste, der seinem Frust Luft macht. „Damn!“ schreibt er bereits um 6.19 Uhr im Nachrichtendienst Twitter. Verdammt. „Was für ein schlechter Tag für Europa.“ Aus deutscher Sicht verabschiedet sich mit Großbritannien ja nicht nur ein wichtiger Handelspartner aus dem gemeinsamen Binnenmarkt, der jedes Jahr Waren und Dienstleistungen für fast 90 Milliarden Euro in Deutschland ordert. Im ständigen Tauziehen mit den fordernden Süd-Ländern oder in den Verhandlungen um das transatlantische Freihandelsabkommen fehlt der Bundesregierung jetzt auch ein wichtiger ideeller Verbündeter.
Privat vor Staat, Wettbewerb, Marktwirtschaft: Hier waren Briten und Deutsche in der Vergangenheit häufig Brüder im Geiste.
Profitieren könnte von der Entscheidung der Briten der Finanzplatz Frankfurt. Mehrere Banken, Versicherungen und Fondsgesellschaften haben bereits angekündigt, Teile ihres Geschäfts nach „Mainhattan“ oder nach Paris zu verlagern. Erste Schätzungen gehen von bis zu 20 000 neuen Arbeitsplätzen in Frankfurt aus.
Alleine die Deutsche Bank beschäftigt mehr als 8000 Mitarbeiter in London. Nach einem Brexit, hat Konzernchef John Cryan bereits angekündigt, werde besonders der Handel mit Staatsanleihen von Euro-Ländern nach Kontinentaleuropa verlegt. „Wir handeln schließlich auch keine italienischen Staatsanleihen in Tokio.“ Ihre Fusionspläne haben die Frankfurter und die Londoner Börse allerdings noch nicht begraben.
Viele Studenten werden das Ausscheren der Briten besonders bedauern. Über das von der EU finanzierte Erasmus-Programm haben sie bisher nicht nur 270 Euro Zuschuss im Monat für ein oder zwei Auslandssemester erhalten, sondern sich auch die Studiengebühren für britische Hochschulen gespart. Für viele deutsche Studenten könnte das Studium auf der Insel nun unerschwinglich teuer werden.