An sich wäre das ja einer der schöneren Termine eines Bundesinnenministers. Ein Vormittag in Bautzen, wo das neue Fahndungszentrum der Polizei eingeweiht wird. Ein Anlass, bei dem Horst Seehofer auf Positives verweisen kann. Auf die gute Zusammenarbeit zwischen Bundes- und Landespolizei, auf die Erfolge in der Fahndungsarbeit, die Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität. Nicht aber an diesem Montag. Nicht nachdem, was am Abend zuvor durchgesickert ist.
Jetzt steht Horst Seehofer also in Bautzen und müht sich ein Lächeln ab, als die erste Frage nichts mit Fahndungsarbeit zu tun hat – sondern nur mit seiner Zukunft. „Ich werde das Amt des Parteivorsitzenden der CSU niederlegen, diese Entscheidung steht fest“, sagt er. Wann das sein wird, wolle er noch in dieser Woche bekannt geben. Und dann erklärt er: „Ich bin Bundesinnenminister und werde das Amt weiter ausüben. War das klar genug?“
Am Vorabend in der CSU-Parteizentrale in München ist erst einmal gar nix klar. Seehofer trifft sich dort mit seinen Stellvertretern, den mächtigen Bezirksvorsitzenden und den Leitern der CSU-Arbeitskreise, um über die Reihung der Kandidaten auf der Liste der CSU für die Europawahl zu entscheiden. Im Raum „Große Lage“ im ersten Stock gibt es Kaffee, Kuchen und Obst. Ein gemütliches Kaffeekränzchen aber ist es nicht.
Vier Jahre ist es her, dass die CSU bei den Wahlen zum Europäischen Parlament die erste von drei Wahlschlappen in Serie einstecken musste. Drei ihrer bis dahin acht Sitze gingen damals verloren. Und dass es im Mai kommenden Jahres wieder deutlich aufwärtsgeht, glaubt niemand im Raum. Dementsprechend hart wird verhandelt. Drei Stunden dauert es, bis die ersten elf Plätze auf der Liste feststehen. Doch das ist nur das Vorspiel zu der weitaus deftigeren Debatte, die jetzt noch folgt. Wurstsalat, Brot und Bier werden serviert. Seehofer wird als CSU-Vorsitzender abserviert.
Jeder hört amliebsten, was erhören will
Berichte aus Sitzungen, die hinter verschlossenen Türen stattfinden, sind stets mit Vorsicht zu genießen. Für diese Sitzung gilt das ganz besonders. Praktisch jeder, der am Tisch sitzt, ist Partei. Jeder hört am liebsten das, was er hören will. Jeder Akteur will hinterher in einem guten Licht erscheinen. Manche wollen gar nicht dabei gewesen sein. Verlässlich dokumentiert, weil von verschiedener Seite bestätigt, ist dennoch einiges.
Dazu gehört der Beginn der zweiten Runde dieses Abends. Es ist etwa 19 Uhr. Seehofer weiß, dass seine Zeit als CSU-Vorsitzender abgelaufen ist. Er werde, so erklärt er, einem Neuanfang der Partei nicht im Weg stehen und als CSU-Chef zurücktreten. Er werde dies allerdings nicht sofort tun, sondern erst im Verlauf dieser Woche den Zeitpunkt seines Rücktritts bekannt geben. Im Raum herrscht „Grabesstille“. Seehofer wartet und bittet schließlich um Wortmeldungen.
Übereinstimmend berichtet wird hinterher zudem, wer an diesem Abend die „Revolutionsführer“ sind. Der frühere Bundesinnenminister und oberfränkische CSU-Bezirkschef Hans-Peter Friedrich und der Europapolitiker und schwäbische CSU-Bezirkschef Markus Ferber ergreifen als Erste das Wort. Sie lassen keinen Zweifel daran, dass sie Seehofers Rücktritt für überfällig halten. Andere stimmen ein, allen voran die Vertrauten von Ministerpräsident Markus Söder – sowohl Albert Füracker, der ihn als Finanzminister beerbte, als auch der Bundestagsabgeordnete Michael Frieser, der von Söder das Amt des CSU-Bezirkschefs für Nürnberg, Fürth und Schwabach übernahm. Und noch etwas ist mehrfach bestätigt: Ausgerechnet die beiden Herren, denen ein heftiges Interesse am CSU-Vorsitz nachgesagt wird, schweigen beharrlich. Weder Söder noch der CSU-Europapolitiker und Parteivize Manfred Weber sagen bis zum Schluss der Sitzung auch nur ein Wort.
Viele verschiedene Lesarten
Das ist es dann aber auch schon mit den gleichlautenden Berichten von diesem denkwürdigen Abend. Für den großen Rest gibt es jeweils zwei oder sogar mehrere Versionen.
Nach einer Version erklärt Seehofer, dass er nach dem CSU-Vorsitz auch das Amt des Bundesinnenministers aufgeben werde, weil er im Kabinett Merkel ohne Parteiamt auf Dauer nicht bestehen könne. Das sagen die, die seinen endgültigen Abschied aus der Politik wollen. Er selbst wird es am Tag darauf dementieren – auch im Gespräch mit unserer Redaktion. „Ich kann mich schon behaupten in Berlin“, versichert Seehofer.
Umstritten ist auch, wer im Hintergrund dieser „Revolution“ Regie führt. Seehofer hat keinen Zweifel, dass Söder dahintersteckt, obwohl er ihm doch sieben Tage vor der Landtagswahl noch versichert habe, dass er kein Interesse am Parteivorsitz und an all dem damit verbundenen Ärger in Berlin habe. Aus Söders Umgebung heißt es dazu, dass der Ministerpräsident das Amt tatsächlich nicht anstrebe und sich voll auf Bayern konzentrieren wolle. Dieser Version widersprechen allerdings andere Mitglieder des CSU-Vorstands. Da heißt es, Söder müsse selber gar nichts mehr tun, um CSU-Chef zu werden. Er müsse nur abwarten. Das Amt laufe ohnehin schon lange auf ihn zu.
Zu dem Misstrauen, mit dem sich einige Spitzenpolitiker in der CSU begegnen, kommt offenbar auch die Sorge vor einem offenen Schlagabtausch über die Frage, wer denn nun schuld sei an der Wahlniederlage bei der Landtagswahl. Seehofer weist, wie Teilnehmer sagen, in der Sitzung ausdrücklich darauf hin, dass er eine Wahlanalyse auf einem öffentlichen Parteitag nicht wolle, weil das „den Selbstzerstörungsprozess beschleunigen“ würde. Andere halten das für eine verdeckte Drohung. Seehofer sagt unserer Redaktion dazu nur, dass er das schlechte Abschneiden bei der Bundestagswahl zu verantworten habe. „Die Verantwortung für das Ergebnis der Landtagswahl übernehme ich nicht.“ Es gebe dafür zwar Gründe, die in Berlin zu suchen seien. „Es gibt aber auch hausgemachte Gründe in Bayern.“
Als um kurz vor 20.30 Uhr die Teilnehmer des Treffens die CSU-Parteizentrale verlassen, wissen alle, dass Seehofer aufhört. Den Zeitpunkt seines Rücktritts kennen sie nicht.
Erleichterung in Berlin
In Berlin ist am Tag danach so etwas wie Erleichterung zu spüren, auch in der CSU-Landesgruppe. Der Augsburger CSU-Abgeordnete Volker Ullrich sagt etwa: „Ich begrüße, dass Horst Seehofer den Weg für eine Veränderung und Erneuerung an der Parteispitze freimacht. Wir brauchen in der CSU insgesamt Erneuerung und eine breitere thematische Aufstellung.“ Hinter vorgehaltener Hand zeigen sich manche Abgeordnete überrascht, dass Seehofer nach eigenem Bekunden zunächst Innenminister bleiben will. Unter den CSU-Bundestagsabgeordneten war das Murren über Seehofer zuletzt immer lauter geworden. Viele Abgeordnete sahen im Dauerstreit des Innenministers mit Kanzlerin Angela Merkel und seinem unglücklichen Agieren in der Affäre um Geheimdienstchef Hans-Georg Maaßen eine Gefahr für das Ansehen der Partei. Doch es scheint, als sei es Seehofer wie zuvor CDU-Chefin Merkel gelungen, mit seiner Rücktrittsankündigung den größten Druck aus dem Kessel zu nehmen. Eine breitere Bewegung, die Seehofer auch zum Rücktritt als Innen-, Bau- und Heimatminister drängt, ist jedenfalls aktuell in Berlin nicht erkennbar. Im Gegenteil: In der Stunde des dräuenden Abschieds erinnern sich viele an die Verdienste Seehofers um die CSU. Landesgruppenchef Alexander Dobrindt: „Horst Seehofer hat als Parteivorsitzender große Erfolge erzielt. Er hat aus einer schwierigen Situation heraus 2013 die absolute Mehrheit für die CSU zurückerobert.“
Zumindest eine Zeit lang, so der Tenor in der Landesgruppe, sei Seehofer noch der politische Austrag als Innenminister zu gönnen. Wenn nicht bis zum Ende der Legislaturperiode in drei Jahren, so doch zumindest bis zu dem Zeitpunkt, an dem Seehofer bereit ist, als Superminister den selbstbestimmten Abschied zu vollziehen. Den er sich wie Angela Merkel, seine ewige Gegnerin, sehnlich wünscht. Wie die Kanzlerin, sagen Seehofer-Vertraute, sei auch der Innenminister vom Glauben beseelt, „dass er noch große Aufgaben zu erledigen hat“. Gleichzeitig hat in der CSU-Landesgruppe das begonnen, was ein erfahrenes Mitglied „die Stunde der Kaffeesatzlesers“ nennt.
Wer beerbt den Patiarchen?
Spekuliert wird intensiv über die Frage, wer Seehofers Erbe antritt. Als Parteichef, daran hat auch in Berlin kaum mehr einer Zweifel, wird es Bayerns Ministerpräsident Markus Söder sein. Doch wer Seehofer dereinst als Innen-, Bau- und Heimatminister folgen soll, scheint keineswegs ausgemacht. Als aussichtsreicher und fachlich bestens geeigneter Kandidat gilt etwa Seehofers Innenstaatssekretär Stephan Mayer. Aber auch Andrea Lindholz aus Aschaffenburg, der Vorsitzenden des Innenausschusses des Bundestags, werden Chancen eingeräumt. Spekuliert wird zudem über ein mögliches Kabinetts-Comeback von Hans-Peter Friedrich, der 2011 bis 2013 bereits Bundesinnenminister war.
Dass Joachim Herrmann, der „Schatten-Bundesinnenminister“ aus dem zurückliegenden Wahlkampf, doch noch von München nach Berlin wechseln könnte, gilt in der Hauptstadt dagegen als nahezu ausgeschlossen. Alexander Dobrindt, der als Landesgruppenchef den ersten Zugriff auf das Ministeramt hätte, hat dem Vernehmen nach keine Ambitionen auf eine Rückkehr ins Kabinett erkennen lassen. Von 2013 bis 2017 war Dobrindt Bundesverkehrsminister.
Neue Nahrung bekommen haben indes Mutmaßungen, dass es im Zusammenhang mit der Nachfolge Seehofers zu einer Rotation innerhalb des Kabinetts kommen könnte. Durchgespielt werden mehrere Varianten. Eine lautet: Der vom Dieselskandal geplagte Verkehrsminister Andreas Scheuer könnte ins Innenministerium wechseln, im Verkehrsministerium würde Digitalstaatssekretärin Dorothee Bär übernehmen.
Andere Überlegungen erfahrener CSU-Strategen haben mit der Entwicklung bei der Schwesterpartei CDU zu tun. Dort stehen große personelle Umbrüche bevor, die das gesamte Kabinett betreffen könnten. Ein Szenario: Annegret Kramp-Karrenbauer wird CDU-Chefin und soll als Kanzlerkandidatin aufgebaut werden. Dazu würde sie einen gewichtigen Ministerposten bekommen. Das Innenministerium böte ihr demnach besonders große Möglichkeiten, das konservative Profil der CDU wieder zu schärfen. Die CSU würde im Rahmen eines Tauschgeschäfts mit einem anderen wichtigen Ministerium entschädigt.
Etwa mit dem Wirtschaftsministerium von Peter Altmaier, der wie Kramp-Karrenbauer aus dem kleinen Saarland kommt und schon aus Regionalproporzgründen weichen müsste.
Sogar den Fall, dass Friedrich Merz CDU-Chef würde und die SPD dann die Große Koalition platzen ließe, spielen die CSU-Strategen bereits durch. Im Falle von Neuwahlen wäre Seehofers Zeit als Innenminister abgelaufen und die Personal-Karten würden erst recht völlig neu gemischt, heißt es.
Horst Seehofers Karriere im Überblick
Horst Seehofer, 69, hat seiner Partei mehr als 40 Jahre lang gedient. Seine Karriere im Überblick:
1971 tritt Seehofer der CSU bei.
1980 zieht er als direkt gewählter CSU-Abgeordneter in den Bundestag ein, dem er bis 2008 angehört.
1989 wird er Parlamentarischer Staatssekretär im Arbeits- und Sozialministerium.
1992 kommt er als Bundesgesundheitsminister ins Kabinett von Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU), er bleibt es bis 1998.
1994 wird er zum stellvertretenden CSU-Vorsitzenden gewählt.
1998 wird er Vize-Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, das Amt legt er 2004 im Streit über die Gesundheitspolitik nieder.
2005 übernimmt er unter Kanzlerin Angela Merkel (CDU) das Bundeslandwirtschaftsministerium und führt es drei Jahre lang.
Im Oktober 2008 wird Seehofer CSU-Chef und bayerischer Ministerpräsident, von 2013 bis 2018 ist er darüber hinaus Landtagsabgeordneter in Bayern.
Seit März 2018 ist Seehofer Bundesminister des Innern, für Bau und Heimat.
Am Montag kündigt Seehofer offiziell an, als CSU-Chef aufzuhören. Er will aber Bundesinnenminister bleiben. dpa