Der Innenminister, um drastische Worte nie verlegen, ging in die Offensive. Der freiheitliche Rechtsstaat, von islamistischen Terroristen missbraucht, müsse ab sofort Zähne zeigen. „Es muss Schluss sein mit der Haltung des ,anything goes‘“, forderte er – und präsentierte einen ganzen Katalog von Maßnahmen, der nicht mehr und nicht weniger als eine neue Sicherheitsarchitektur in Deutschland zum Ziel hatte. Die Einwände seiner Kritiker wischte er zur Seite: Nichts dürfe den Kampf gegen Kriminalität behindern.
Das war im September 2001, kurz nach den verheerenden Anschlägen des 9. September in New York durch islamistische Terroristen. In Berlin regierten SPD und Grüne, der Innenminister hieß Otto Schily von der SPD. Gegen alle Widerstände paukte er in wenigen Wochen zwei umfangreiche Gesetzespakete durch, die als „Otto-Katalog“ in die Geschichte eingingen und einen Tabubruch in der Innenpolitik darstellten. Erstmals wurde das strikte Trennungsverbot zwischen Polizei und Geheimdiensten aufgehoben, Bundesnachrichtendienst, Bundesamt für Verfassungsschutz und Bundeskriminalamt erhielten das Recht, systematisch Daten auszutauschen.
Widerstand gegen de Maiziere
Knapp 16 Jahre später, nach dem schweren Anschlag von Berlin, geht erneut ein Innenminister in die Offensive und verlangt im Kampf gegen den islamistischen Terrorismus eine Bündelung der Kräfte sowie eine neue Sicherheitsarchitektur für Deutschland. Und wie Schily im Jahr 2001 stößt auch Thomas de Maiziere von der CDU auf Widerstand. Vor allem seine Vorschläge, die Landesämter für Verfassungsschutz zugunsten einer einheitlichen Bundesbehörde aufzulösen, die Befugnisse des Bundeskriminalamtes auszuweiten und die Bundespolizei zu stärken, werden in der eigenen Partei, beim Koalitionspartner SPD sowie von praktisch allen Landesinnenministern kategorisch abgelehnt.
„Das ist reiner Aktionismus und ein Schnellschuss“, sagt die SPD-Innenexpertin Gabriele Fograscher gegenüber dieser Redaktion. Die Große Koalition habe in der Vergangenheit „viel getan“, um die Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden zu verbessern und Reibungsverluste abzubauen. Zwar sei unbestritten, dass die Kooperation von Bundes- und Landesbehörden in einem föderalen Staat schwierig und kompliziert sei und weiter optimiert werden müsse, gleichwohl seien dafür keine neuen Gesetze nötig.
„Wir müssen die bestehenden Gesetze konsequent anwenden und unsere Sicherheitsbehörden personell und technisch besser ausstatten“, so Fograscher.
Der erfahrene Jurist de Maiziere, der selber schon Innenminister von Sachsen war und als langjähriger Teilnehmer der Innenministerkonferenz die Befindlichkeiten seiner Länderkollegen bestens kennt, musste wissen, dass seine Vorschläge nicht nur auf heftigen Widerstand stoßen, sondern auch politisch nicht durchsetzbar sind. Die Länder würden niemals die Kompetenzen für die innere Sicherheit abgeben und dem Bund mehr Kompetenzen einräumen.
In Berlin glaubt man daher, dass der Vorstoß des Ministers, ein enger Vertrauter der Kanzlerin, gezielt einen Tag vor der Klausur der CSU-Landesgruppe im Kloster Seeon kam, um der bayerischen Schwesterpartei das Thema zu entreißen und die CSU gezielt unter Druck zu setzen – und dies an einem Punkt, wo es ihr besonders weh tut, bei ihrer Kernkompetenz der inneren Sicherheit. „Das ist ein Schlag gegen Seehofer“, heißt es am Mittwoch bei der SPD, „Merkel und de Maiziere wollen die Lufthoheit bei der inneren Sicherheit zurückerobern.“
Unmittelbar nach dem Anschlag in Berlin hatte die Kanzlerin angekündigt, die Ursachen zu analysieren und Konsequenzen zu ziehen. Doch Seehofer war vorgeprescht und hatte den Fall Anis Amri zum Anlass genommen, mit starken Worten eine komplette Neujustierung der Ausländer- und Sicherheitspolitik zu fordern. Nun aber dreht Merkel den Spieß um. Demonstrativ stellt sie sich am Mittwoch hinter ihren Innenminister.
„Alles ablehnen geht nicht“
Die Kanzlerin sei nicht nur informiert gewesen, dass de Maiziere öffentlich Vorschläge zur Verbesserung der inneren Sicherheit mache, sondern sie „hat ihn dazu auch ermutigt“, sagt der stellvertretende Regierungssprecher Georg Streiter. Aus Sicht der Kanzlerin sei dies ein „wichtiger Beitrag“ in einer Situation, „die jeder im Lande als schwierig empfindet“. In einer „Zeit neuer Herausforderungen“ gehe es um „angemessene Antworten“ und nicht darum, ob organisatorische Veränderungen einem angenehm oder unangenehm seien. „Also erstmal alles rundweg ablehnen und ausschließen, kann nicht der richtige Weg sein.“
Eine vertraute Argumentation. Genauso hat einst auch Otto Schily seine Maßnahmenkataloge begründet: „Die Konzentration der intellektuellen Kräfte muss sich auf die Frage richten: Wie werden wir mit der terroristischen Bedrohung fertig? Deshalb bin ich dagegen, großes Sirenengeheul anzustimmen, wo es gar nicht angebracht ist.“