Die Aufmerksamkeit der ganzen Nation ruht in diesem Moment auf Dietmar Nietan. Es ist sehr still geworden im Willy-Brandt-Haus. Mehrere hundert Journalisten aus aller Welt, die zuvor eine gute Stunde lang bei acht Grad unter Null vor der SPD-Zentrale in Kreuzberg in einer Warteschlange gebibbert hatten, warten darauf, dass Nietan, unscheinbarer mit Brille und Bart, endlich etwas sagt. Die Kameras richten sich auf den Sozialdemokraten aus Düren, der nun wirklich nicht gerade zu den bekanntesten Figuren in der deutschen Politik zählt.
Seine Vita ist recht schnell erzählt. Abgebrochenes Studium der Biologie und Sozialwissenschaften, über die Mitarbeit bei einem Abgeordneten hat er selbst den Einstieg in die Politik geschafft. Der 53-Jährige saß zunächst von 1998 bis 2005 für die SPD im Bundestag, danach war er vier Jahre lang Berater eines gewissen Europapolitikers namens Martin Schulz. Der hat einen nicht ganz unbeträchtlichen Anteil daran, dass Nietan an diesem Sonntagmorgen mitten im Zentrum des Interesses steht. 2009 zog Nietan wieder ins Parlament ein, seit 2014 ist er Schatzmeister der Bundes-SPD. Der Mann der Zahlen also – und als Chef der Mandatsprüfungs- und Zählkommission für die Abwicklung des Mitgliederentscheids zuständig.
66,02 Prozent sind für die GroKo, 33,98 Prozent dagegen.
Nietan macht es spannend. Er berichtet zunächst, wie ernst er und seine 120 freiwilligen Helfer die Auszählung genommen haben, die die ganze Nacht gedauert hat. Wie die strittigen Stimmzettel mehrfach geprüft worden sind. Und dass ein Notar alles sehr genau überwacht hat. Über die Zahl der Parteimitglieder der SPD insgesamt (463 722), der abgegebenen Stimmen (378 437) und der gültigen Stimmen (363 494) kommt er dann doch irgendwann zu den Angaben, auf die alle so gespannt warten: Exakt 239 604 SPD-Mitglieder haben sich für einen Eintritt ihrer Partei in eine Große Koalition mit der Union ausgesprochen, 123 329 sind dagegen. 66,02 Prozent für die GroKo also, 33,98 Prozent dagegen.
Im offenen Atrium der SPD-Zentrale warten zahlreiche Parteimitglieder und Funktionäre auf das Ergebnis, sie stehen auf den Treppen oder blicken von den Emporen auf das Podium herab. Schweigen. Keiner klatscht, solange Nietan die entscheidenden Zahlen vorliest. Weder bei den Ja-Stimmen, noch bei den Nein-Stimmen gibt es eine hörbare Reaktion. Der Beifall, ein bisschen wenigstens, kommt erst später.
An Wahlabenden sorgen die ersten Hochrechnungen und Ergebnisse hier entweder für lauten Jubel oder ein enttäuschtes Raunen. Am Abend des 24. September des vergangenen Jahres war ein besonders schriller Aufschrei des Entsetzens zu hören, als sich auf den Bildschirmen das 20-Prozent-Ergebnis ankündigte, das schlechteste bei einer Bundestagswahl überhaupt. Kanzlerkandidat Martin Schulz, Dietmar Nietans ehemaliger Chef, hatte die riesigen Erwartungen, die die Partei in ihn gesetzt hatte, bitter enttäuscht. Und die eigene tiefe Enttäuschung war es wohl auch, die den Wahlverlierer Schulz noch am Abend eine Fortsetzung der Großen Koalition unter Angela Merkel kategorisch ausschließen ließ. Am Tag darauf legte er sogar noch nach: In ein Kabinett Merkel werde er niemals eintreten, versprach Schulz.
Weil auch bei der Union kaum Interesse an einer Neuauflage des ungeliebten Zweckbündnisses mit der SPD bestand, schien es, als würden Schulz? vollmundige Ankündigungen ohne Folgen bleiben. Die SPD, noch Teil der kommissarischen Bundesregierung, kündigte einen harten Oppositionskurs an gegen das Jamaika-Bündnis, das sich da zu formieren schien. „Auf die Fresse“ werde es die SPD einer künftigen Regierung geben, tönte Andrea Nahles, die den Fraktionsvorsitz übernahm.
Doch dann scheiterten die Sondierungsgespräche zwischen Union, Liberalen und Grünen auf der Zielgeraden. FDP-Chef Christian Lindner wollte lieber nicht regieren, als schlecht regieren und ließ alle Jamaika-Träume platzen. Plötzlich war eine Neuauflage der GroKo der einzige Weg, doch noch zu einer stabilen Regierung zu kommen.
Nach Steinmeiers Machtwort war die SPD zum Sondieren bereit
SPD-Chef Martin Schulz wurde nun von seinen Versprechen eingeholt, für ein solches Bündnis stünden weder er noch seine Partei zur Verfügung. Es bedurfte eines Machtworts von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, um die SPD zu Sondierungsgesprächen zu bewegen. Schulz mutierte zum entschiedenen GroKo-Befürworter. Bedeutende Teile der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands aber wollten den Kurswechsel ihres Vorsitzenden nicht mitmachen. Die Parteilinke und der Nachwuchs, die rebellischen Jusos, forderten, die SPD müsse ihre Erneuerung in der Opposition suchen. Eine weitere GroKo werde zur „Verzwergung“ der Partei führen, warnten sie. Unter dem Druck der GroKo-Gegner musste Martin Schulz versprechen, dass die Partei nach den Sondierungen zunächst bei einem Sonderparteitag über die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen entscheiden darf.
In Bonn hatten dann zwar die GroKo-Gegner deutlich mehr Anteile an der Diskussion, trotzdem bekam die Parteispitze grünes Licht für konkrete Koalitionsgespräche. Am Verhandlungstisch nutzte die SPD ihre starke Position, um einige inhaltliche Zugeständnisse und vor allem wichtige Ministerämter für sich herauszuholen. Der Koalitionsvertrag konnte sich durchaus sehen lassen für die SPD. Doch die Partei kam nicht zur Ruhe. Als Martin Schulz entgegen seines Versprechens nach der Wahl ankündigte, er werde in der neuen Regierung Außenminister werden und damit Sigmar Gabriel ablösen, den derzeit beliebtesten Genossen, kochte der Zorn in den Regionalverbänden hoch. Dass Schulz zuvor seinen Verzicht auf das Amt des Parteichefs erklärt hatte, nutzte ihm nichts mehr. Unter dem Druck seiner Parteifreunde, die befürchteten, der Ärger über Schulz werde den Mitgliederentscheid über den Koalitionsvertrag kippen, musste er seine Ambitionen auf das Außenministerium begraben.
So steht Dietmar Nietan an diesem Sonntagmorgen nicht neben seinem ehemaligen Boss Martin Schulz, von dem im Willy-Brandt-Haus nichts zu sehen ist. Er steht auch nicht neben Andrea Nahles, der designierten Parteichefin. Es ist alles kompliziert geworden bei der SPD. Nahles ist zwar die mächtigste Figur in der Partei, doch sie muss erst gewählt werden – ein Auftritt bei der Vorstellung des Abstimmungsergebnisses hätte ihr als Missachtung der Parteibasis ausgelegt werden können. Die fordert in Zukunft noch mehr Mitsprache. Und ist, wie das Ergebnis des Mitgliederentscheids zeigt, gespalten – auch wenn die GroKo-Gegner weniger zahlreich sind, als von vielen Top-Genossen befürchtet.
Es darf keine Verlierer geben, kein weiteres böses Blut
Dass keiner klatscht, als Dietmar Nieten die Zahlen der Ja- und Nein-Stimmen vorliest, dass es erst danach im Willy-Brandt-Haus verhaltenen Beifall gibt, ist kein Zufall. Die unterlegenen GroKo-Gegner sollen nicht düpiert werden, es darf hier keine Verlierer geben, kein weiteres böses Blut. Auch wenn Olaf Scholz, der kommissarische Parteivorsitzende, der nach Dietmar Nietan ein paar Worte sagt, das bestreitet – es sieht ganz danach aus, als hätten sich die GroKo-Befürworter ein Jubel-Verbot auferlegt. Das Votum bringe Klarheit, sagt der Hamburger Scholz, der Finanzminister werden soll. Über die übrigen fünf SPD-Minister werde in den kommenden Tagen entschieden. „Drei Frauen, drei Männer, einige, die schon dabei sind, einige Neue“ – mehr verrät Scholz nicht.
Es wird nicht gefeiert im Willy-Brandt-Haus, jedenfalls nicht offen. Eine einzelne Frau hält ein Sektglas in der Hand, den Schaumwein habe es im vierten Stock nach der Auszählung gegeben, sagt sie – und verbittet sich weitere Fragen.
Auch die GroKo-Gegner geben sich zahm und versöhnlich. „Selbstverständlich akzeptieren wir dieses Ergebnis“, sagt Juso-Chef Kevin Kühnert, die Galionsfigur des Protests. Der Parteinachwuchs werde sich in die Erneuerung der Partei voll einbringen, aber auch „der Regierung auf die Finger schauen“.
Das Willy-Brandt-Haus leert sich nach der knappen Pressekonferenz schnell, SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil verschwindet im Taxi in den sonnigen Morgen. Und Dietmar Nietan, der gerade ein paar Minuten lang sehr berühmt war, ist wieder ein ganz normaler Abgeordneter.