Beim Deutschen Gewerkschaftsbund war man stinksauer. „In ebenso unerträglicher wie von der Sache her unbegründeter Weise mischt sich die Deutsche Bundesbank in die nationale Tarifpolitik ein“, rüffelte DGB-Vorstandsmitglied Heinz Putzhammer die Deutsche Bundesbank. Die hatte in ihrem Monatsbericht die Tarifabschlüsse brüsk als zu hoch kritisiert. Das war im Juni 1999.
Seitdem ist in der deutschen Wirtschaft vieles anderes. Und offenbar auch die Sichtweise der Deutschen Bundesbank in Sachen Tarifpolitik. Im aktuellen „Spiegel“ wirbt, nein fordert Bundesbank-Chefvolkswirt Jens Ulrich höhere Lohnabschlüsse. Die aktuelle Entwicklung der Tarifeinkommen sei vor dem Hintergrund der guten konjunkturellen Lage und der niedrigen Arbeitslosigkeit „durchaus moderat“. Angesichts der niedrigen Inflationsrate – die im Juni bei gerade einmal 1,0 Prozent lag – sei also Verhandlungsspielraum für höhere Tarifabschlüsse.
Die Bundesbank als Fürsprecher von Millionen von Arbeitnehmern? Die Reaktionen auf den überraschenden Vorstoß fallen entsprechend aus. „Das ist schon bemerkenswert“, sagt etwa Franz Firsching, „dass ausgerechnet die Bundesbank so etwas fordert.“ Dabei kann der Geschäftsführer der DGB-Region Unterfranken, Chefvolkswirt Ulrich, nur zustimmen: „Wo er recht hat, hat er recht.“ Ein größerer Anteil am Kuchen sei für die Arbeitnehmer wünschenswert.
Allerdings sei schon seit einigen Jahren eine gefährliche Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt zu beobachten, warnt Firsching: „Die Schere bei der Lohnentwicklung geht ganz klar auseinander.“ So nehme eine Hälfte der Arbeitnehmer gar nicht mehr an Einkommenssteigerungen teil. Die Folge sei schleichender Kaufkraftverlust und damit eine negative Reallohnentwicklung. Die andere Hälfte der Arbeitnehmer hingegen erlebe eine teilweise „sehr gute Entwicklung“. Firsching nennt hier etwa die exportstarken Branchen Chemie und Metall.
Und wie sieht es mit dem neuen Mindestlohn aus? Firsching findet ein eher zwiespältiges Urteil. Natürlich würden Arbeitnehmer profitieren, die bislang unter der neuen Schwelle von 8,50 Euro die Stunde bezahlt wurden. Doch auch mit Mindestlohn bewege man sich ja noch im Niedriglohnbereich.
Auch Peter Bofinger zeigt sich am Montag „freudig überrascht“ vom Appell der Bundesbank. Der Wirtschaftsweise und Würzburger Wirtschaftsprofessor forderte stets höhere Lohnabschlüsse – und war damit in seiner Zunft oft isoliert. „Lange musste ich mir anhören, dass höhere Abschlüsse schlecht für die Wettbewerbsfähigkeit sind“, sagte er dieser Zeitung. Nun erkenne man offenbar, dass sie die Binnennachfrage – die zuletzt den Aufschwung getragen habe – beflügeln würden.
Wichtig ist dem Wirtschaftsweisen jedoch auch: „Die Lösung in Deutschland kann nicht sein, dass man einfach nur die Löhne erhöht – dieses Land muss endlich wieder mehr investieren.“ Damit meint Bofinger nicht zuletzt den öffentlichen Sektor. „Man muss sich doch nur mal den Zustand vieler Schulen ansehen.“ Hier müsse man ansetzen.
Und was ist mit der Angst vor einer sogenannten Lohn-Preis-Spirale – bei der sich höhere Löhne und höhere Preise gegenseitig zu einer gefährlichen Inflationswelle hochschaukeln? Das sieht Bofinger ganz entspannt. „Die ganzen positiven Wachstumsvorhersagen für das kommende Jahr haben kräftige Lohnsteigerungen doch schon eingepreist.“ In Prognosen der Institute stehe bei der zugrunde gelegten Lohnsteigerung eine Drei oder gar eine Vier vor dem Komma.
Zahlen, die Bertram Brossardt nicht nachvollziehen kann. „Auf den internationalen Märkten würden uns kräftige Lohnerhöhungen extrem schaden“, sagte der Hauptgeschäftsführer der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft dieser Zeitung. In den vergangenen Jahren seien die Lohnsteigerungen enorm gewesen, rechnet er vor, „der Produktivitätszuwachs hingegen äußerst gering“. So lägen die durchschnittlichen Tarifentgelte heute um 15,7 Prozent über dem Vorkrisenniveau von 2007, die gesamtwirtschaftliche Produktivität dagegen ist im selben Zeitraum nur um 1,8 Prozent angewachsen.
Die nächste große Tarifrunde steht in der Metall-Industrie bereits zum Jahresende an. Daher will man sich bei der IG Metall nicht zu konkreten Lohnforderungen für die rund 3,7 Millionen Beschäftigten äußern. Man habe, heißt es diplomatisch, bei der Forderung stets auch die Folgen für die Binnennachfrage im Blick und in den vergangenen Jahren für die Beschäftigten Reallohnzuwächse realisieren können. Die konjunkturelle Lage werde man zeitnah im Herbst überprüfen und dann eine fundierte Forderung aufstellen.
Doch warum kümmert sich die Bundesbank eigentlich um die Höhe der Tarifabschlüsse? Die Antwort kann jeder Sparer auf seinem Kontoauszug sehen: Angesichts der historischen Niedrigzinsen fehlt der europäischen Notenbank EZB ihre sonst übliche Waffe, um die Inflationsrate im gewünschten Korridor zu halten – nämlich die Senkung der Leitzinsen. Hinter all dem steckt die große Angst vor einer Deflation.
Diese Gefahr sieht auch Peter Bofinger. „Ja, die Inflationsrate ist zu niedrig.“ Sie liege derzeit im Euroraum noch deutlich unter der deutschen; bei gerade einmal 0,5 Prozent. Damit sei sie weit vom EZB-Ziel von immerhin knapp zwei Prozent entfernt. Da in vielen Problemländern die Löhne derzeit aber nicht steigen könnten, müssten sie im wirtschaftlich starken Deutschland überdurchschnittlich stark steigen, so Bofinger, „Deutschland bräuchte also mindestens zwei Prozent Inflationsrate.“ Denn wenn andere Staaten das deutsche Erfolgsmodell übernehmen – Stichwort Hartz IV – bestehe die Gefahr, dass die Eurozone tatsächlich in die Deflation rutsche. Und damit in eine lähmende Phase des wirtschaftlichen Stillstands, da sowohl Verbraucher als auch Unternehmen ja von weiter sinkenden Preisen ausgehen.
Und so schaltete sich am Montag auch der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in die Diskussion ein. Es spreche derzeit nichts dagegen, sagte er der „Süddeutschen Zeitung“, für ein, zwei Jahre über den Verteilungsspielraum hinauszugehen. Und das heißt: Ein Plus von drei bis vier Prozent dürfte für viele drin sein.
Der neutrale Verteilungsspielraum
Die Summe aus Preissteigerungsrate und Produktivitätszuwachs wird als neutraler Verteilungsspielraum bezeichnet. Beides sollte möglichst langfristig bemessen werden, um starke konjunkturelle Schwankungen aus den Tarifverhandlungen herauszuhalten.
Als Berechnungsgrundlage gilt daher neben dem trendmäßigen Produktivitätszuwachs von derzeit gut einem Prozent das EZB-Inflationsziel von knapp unter zwei Prozent. Zusammen ergibt das also etwa drei Prozent pro Jahr.
Treffen die Tarifabschlüsse den neutralen Spielraum, profitieren die Arbeitnehmer im
unveränderten Maße am wirtschaftlichen Erfolg. Der durchschnittliche Tarifabschluss in Deutschland lag tatsächlich auch bei 3,1 Prozent. Würde man die Idealformel der Gewerkschaften anwenden, käme ein dritter Faktor hinzu – die Umverteilungskomponente. Nimmt man auch hier ein Prozent als vorstellbare Größenordnung, würde sich ein Tarifplus von etwa vier Prozent ergeben. Text: dpa/md