Christian Kern sitzt in einem hellen, ziemlich schicken Büro. „Viele Leute sagen: Puh, was hast du dir da angetan – das ist so mühsam und so viel Arbeit und so viel Ärger“, sagt er mit tiefer, ruhiger Stimme. Nein, er spricht nicht von seinem künftigen Amt als österreichischer Bundeskanzler. Das Interview ist über ein Jahr alt. Damals wurde der Manager gefragt, was ihn motiviert. Innerhalb kurzer Zeit hatte er die Österreichischen Bundesbahnen wieder in die Spur gebracht. Kern wurde zum gefragten Mann. Und warum soll das, was mit dem behäbigen Staatsunternehmen geklappt hat, nicht auch mit dem ganzen Land klappen?
Am Donnerstag hat sein einziger Rivale um die Nachfolge von Werner Faymann die Bahn frei gemacht. Jetzt kann Kern Kanzler werden. Der eloquente Manager, der schon in jungen Jahren in der SPÖ aktiv war, kehrt in die Politik zurück.
Für die schwer angeschlagenen Sozialdemokraten ist er als Regierungs- und Parteichef die letzte Chance. Österreich ist ein zerrissenes Land. Die Wirtschaft schwächelt, viele Menschen finden keinen Job. Filz, Bestechungsskandale und Vetternwirtschaft haben die politische Klasse in Verruf gebracht. Kaum jemand traut der dauerregierenden Großen Koalition noch zu, den Karren aus dem Dreck zu ziehen. Die Rechtspopulisten von der FPÖ nutzen geschickt den angestauten Frust in der Bevölkerung. Demnächst könnten sie mit Norbert Hofer sogar den Bundespräsidenten stellen.
Österreich braucht einen Krisenmanager. Einen wie Christian Kern. Doch der 50-Jährige, der im legendären Wiener Arbeiterbezirk Simmering aufgewachsen ist und sich in die High Society hochgekämpft hat, machte sich in den vergangenen Tagen rar. Anstatt sich zu seinen Ambitionen zu äußern, ging er lieber auf ein Rockkonzert. Es sollte auf keinen Fall so aussehen, als würde er sich darum reißen, Kanzler zu werden.
Wer dahinter fehlenden Ehrgeiz vermutet, liegt allerdings weit daneben. Am Willen, Karriere zu machen, mangelt es Kern ebenso wenig wie an Selbstbewusstsein. Bisweilen wird ihm das als Überheblichkeit ausgelegt. Manche bezeichnen den smarten Macher mit den perfekt sitzenden Anzügen als Blender. Spötter nennen ihn „CK“ – seine Initialen, aber vor allem eine Anspielung auf die Modemarke Calvin Klein. Der Vater von vier Kindern aus zwei Ehen kann damit leben. Neid muss man sich verdienen. Außerdem geht es ja nicht nur ihm so: Auch Außenminister Sebastian Kurz, der junge Hoffnungsträger des konservativen Koalitionspartners ÖVP, muss sich solche Lästereien gefallen lassen. Doch gemeinsam könnten sie die in Agonie verfallene Alpenrepublik in Schwung bringen. Kern und Kurz: In Wien spricht man schon scherzhaft von einer neuen K.u.K.-Republik.
In dem Interview sagte Kern, es sei nicht das Geld, das ihn motiviere, sondern „die Möglichkeit, etwas gestalten zu können, etwas bewegen zu können“. Kern ist jedenfalls keiner, der zaudert. Als die Regierung in der Flüchtlingskrise in Hilflosigkeit erstarrte, sorgte der Bahnchef dafür, Hunderttausende Menschen unbürokratisch zu versorgen und zu transportieren. Am Wiener Hauptbahnhof machte er sich fast täglich persönlich ein Bild von der Lage.