Der Yacht-Club war die beste Adresse am Strand. Ein weißer Ziegelbau mit Indoor-Pool, davor ein mächtiges Panorama-Fenster mit Blick auf das Meer. Der Yacht-Club liegt nicht im Budget, das Vadym im Jahr 2011 zur Verfügung hat. Als Elektriker auf dem Bau muss man beim Urlaub sparsam sein. „Schyrokyne war da richtig. Nicht so teuer wie Odessa oder die Krim. Wir hatten eine kleine und günstige Ferienwohnung für meine Frau, mich und die 15-jährigen Zwillinge“, sagt der 47-Jährige. Dann umrundet er den Indoor-Pool. Der ist schon lange abgelassen. Ziegelsteine, Bretter, Mauertrümmer liegen im Blau des Beckens. Das Panoramafenster zerbrach im Kugelhagel in Abertausende kleiner Glasstücke. Sie knirschen unter den Füßen des Unteroffiziers, als er mit seinen schweren Stiefeln darüber läuft. Im Gegenlicht gibt er einen unwirklichen Schattenriss, die Kontur der Kalaschnikow hebt sich ab.
Die Gassen mit Schutt übersät
Der Badeort Schyrokyne wurde im Krieg zwischen ukrainischen Einheiten und den von Russland unterstützten Separatisten erst zum Schlachtfeld, dann zur Geisterstadt. Und Vadym fungiert als Führer durch die Trümmergassen. „Schyrokyne war für den Familienurlauber gemacht. Keine riesigen Attraktionen, aber man konnte sich ein Boot mieten. Die Teenager ließen sich auf der Riesen-Banane durch das Wasser ziehen“, erinnert sich Soldat Vadym. Dann geht es zum Strand. Der 47-Jährige will sein Lieblingsrestaurant zeigen. Der Sand gibt sanft unter den Füßen nach, die Natur hat sich Stücke der einstigen Bademeile zurückgeholt. Es grünt im Gelb.
Wie die meisten anderen Gebäude im Ort ist das aufgelassene Restaurant zweistöckig: gelbe Ziegel, zerbrochenes Fensterglas, dunkle Fensterhöhlen. „Verrückt, hier saßen wir und haben gegrillten Fisch gegessen“, schüttelt Vadym den Kopf. Immerhin, gegrillter Fisch steht immer wieder auf der Speisekarte von Vadym und seinen Kameraden. Sie haben in einer der langgezogenen Häuserreihen Stellung bezogen. Die Urlaubsstimmung hat der Krieg gründlich aus den Mauern getrieben. Kein Fenster ist mehr ganz. Vor der Tür ist die Gasse mit Schutt übersät. Innen kahle Mauern, die Möbel längst geplündert oder zerstört.
Es ist nicht weit zum Strand. Die Männer haben aus Plastikflaschen Schwimmer gebaut, die ein Netz halten. Außerhalb des Bereichs gehen die Soldaten lieber nicht ins Wasser. Die Strömung kann Minen anschwemmen. Schon viele Kilometer vor Schyrokyne warnen Schilder davor. „Man muss hier schon aufpassen. In den Ruinen können noch Sprengsätze versteckt sein“, erklärt Vadym. Blindgänger, Sprengfallen und die nahe Frontlinie, an eine Rückkehr der Bewohner nach Schyrokyne ist derzeit nicht zu denken. Dann geht es weiter. An Garagen mit ausgebrannten Booten vorbei.
Der Soldat biegt in eine Gasse ab. Auf beiden Seiten je ein Block mit Ferienwohnungen, teilweise haben Explosionen das Dach weggerissen. Auf dem Asphalt liegen Trümmer und Scherben und mitten in der Trostlosigkeit steht ein Couchsessel wie eine Insel. Vadym lässt sich hineinfallen. „Alle kamen sie hierher, um Urlaub zu machen, aus der ganzen Ukraine und auch aus dem nahen Russland. Wer hätte damals gedacht, dass das passieren kann“, sagt der Mann mit dem Schnellfeuergewehr auf den Beinen.
Seit Kriegsbeginn im Jahr 2014 kämpft er an den verschiedensten Abschnitten der Front im Donbas, dort wo seine Brigade ihn hinschickt. Mittlerweile trägt auch sein Sohn Uniform. „Frisch von der Offiziersschule direkt in die Brigade, in der sein Vater dient“, sagt Vadym stolz. Nur seine Frau, die sehe die Sache etwas anders. „Komm heim, du hast lang genug gekämpft, sagt sie“, lacht Vadym leise. Jetzt muss sie sich auch um den Sohn sorgen. Und Vadyms Vater fällt es immer noch schwer zu glauben, „dass jetzt Ukrainer und Russen aufeinander schießen. Und Ukrainer auf Ukrainer. Aber wir müssen unser Land verteidigen, so einfach ist das“, meint der 47-Jährige.
„Mit meinem Vater ist es ähnlich. Er hat in Afghanistan in der Roten Armee gekämpft und lebt jetzt als Pensionär in Moskau.“ Das sagt Hauptmann Oleksandr, ein sehniger Endvierziger. „Ich kämpfe nicht gegen die Menschen Russlands, sondern gegen die Politik Putins. Die steckt doch hinter all dem Wahnsinn hier“, sagt der Offizier. Er übernimmt die weitere Führung durch Schyrokyne. Zuerst zur Kirche, blau gestrichener Putz, gold-glänzendes Dach, zerschossenes Fensterglas. Die Kirche gehört zum Moskauer Patriarchat. Kreuze und Altar sind verschwunden, an die Wände sind Hakenkreuze geschmiert. Im Keller steht auf Russisch: „Eine Kirche gibt nur dann Licht, wenn sie brennt.“ Auch dazu ein Hakenkreuz, eine 88 und der Vermerk „Parafin Diwission“, das Doppel-SS darin als Runen. „Das waren die Separatisten“, ist sich Oleksandr sicher. Es könnten aber auch ukrainische Kämpfer gewesen sein. Dass beispielsweise in der ehemaligen Freischärler-Einheit „Asow“ zahlreiche Rechtsradikale unter Waffen stehen, ist kein Geheimnis. Und sie hatten in Schyrokyne gekämpft. Aber dann auf Russisch? Wie dem auch sei, für Oleksandr sind Hakenkreuze Dreck, das macht ein Blick in sein Gesicht schnell klar.
Wenige Hundert Meter entfernt zieht sich ein schmaler Weg durch verlassene kleine Bauern- und Fischerhäuschen. Soldaten haben auf einen Stuhl einen Motorradhelm gestellt. „Ein wenig Humor“, sagt Oleksandr, ohne die Miene zu verziehen. Dann geht es über Treppen einen Hügel hinauf. Oben steht die ehemalige Schule. Dort hatten sich die Separatisten verschanzt und auf die ukrainischen Truppen geschossen. Die feuerten von Richtung Meer. Zurück blieb ein Trümmerhaufen.
Keine zwei Minuten zu Fuß entfernt liegt der Kindergarten. Selbst in der Rutsche sind Einschusslöcher. Drinnen liegen aufgeschlagene Malbücher und Spielsachen, als würden die Kinder gleich wieder kommen. Wenn nur nicht über allem zentimeterdick Staub und Dreck liegen würde. Über einem Vorschulzimmer hat ein Granateneinschlag das Dach eingerissen. „Was für ein Irrsinn“, sagt Oleksandr traurig.
Auf dem Weg zur Frontlinie
Dann geht es weiter zur aktuellen Frontlinie. Auf dem Weg liegen menschenleere Straßen, es herrscht völlige Stille. In einem Gasthaus gammelt eine Hochzeitsdeko vor sich hin. Den ukrainischen Verbänden gelang es 2015, den Feind aus dem Ort zu vertreiben, jetzt stehen die Soldaten in Schützengräben am Ortsrand. Es ist still an diesem Tag. „Aber wir kämpfen fast jede Nacht. Sie schießen meist mit Maschinengewehren, Kalaschnikows und Mörsern. Auch Panzer kamen zum Einsatz“, sagt ein junger Soldat und deutet auf eine Ruine, die erst vor einigen Wochen entstanden sein soll.
Oleksandr führt zurück in den Ort. Ein großer Hotelkomplex steht noch zur Besichtigung aus. Rotgemauerte Ziegelbauten, vier- bis fünfstöckig. In einem Block liegt im Eingang eine zerbrochene Gitarre, die Wände sind rußgeschwärzt. Oleksandr fischt in einem Nebenraum einen Stoß Zettel vom Boden. Vouchers für die Gäste. Mit genauem Zeitplan, wann es Frühstück, Mittagessen, Kuchen und Kulturprogramm gibt. Bettruhe: 23 Uhr. Unter den Füßen knirscht der Schutt, als Oleksandr in die oberen Stockwerke geht. Links und rechts nur Zerstörung. „Das Gebäude war ein gefährlicher Ort, von hier aus wurden die feindlichen Stellungen unter Beschuss genommen“, erklärt der Offizier, als er im dritten Stock steht.
Draußen vor dem Gebäude wärmen die Sonnenstrahlen eines Spätnachmittags die Haut. Dann geht auf Oleksandrs Mobiltelefon eine SMS ein: „Willkommen in Russland“, meldet sich ein Provider. Der Offizier zeigt ärgerlich die Nachricht. Er will alles tun, um das zu verhindern.
Autor Till Mayer hat den Soldaten Vadym Ende Mai 2019 begleitet. Inzwischen ist Vadym bei einem Unfall an der Front ums Leben gekommen. Wir veröffentlichen den Text in seiner ursprünglichen Form. Till Mayer setzt sich seit vielen Jahren mit Langzeitfolgen von Kriegen auseinander. Für sein humanitäres Engagement als Journalist und Fotograf wurde er mehrfach ausgezeichnet. Derzeit arbeitet er an dem Foto- und Reportagenband „Donbas – Europas vergessener Krieg“, der im August erscheint.