
Er ist der vielleicht traurigste Bürgermeister der Welt: Bajram Mulaku, 66 Jahre alt, Mathematikprofessor von Beruf. Als er vor acht Jahren das Bürgermeisteramt in Vushtrri im Kosovo übernahm, hatte er sich viel vorgenommen. Die 70 000-Einwohnerstadt hatte im Kosovokrieg 1998/1999 schwer gelitten. Mulaku berichtet von 900 Toten, schweren Schäden an der Infrastruktur und einer zerstörten Altstadt. Er berichtet von Schulen, die nur im Drei-Schicht-Betrieb arbeiten konnten, weil der Platz für die Kinder vorne und hinten nicht reichte. Er berichtet von den Schwierigkeiten, die Wasserversorgung für eine Bevölkerung sicherzustellen, die sich auf die Stadt und 66 zugehörige Dörfer verteilt. „Wir wollten das Leben für das Volk verbessern“, sagt er.
Einiges sei gelungen. 300 Kilometer Straßen seien in seiner Amtszeit asphaltiert worden. Schulen wurden gebaut, Häuser restauriert und auch das Wasserwerk sei fast fertig. Doch dann ereignete sich etwas, das dem freundlichen grauhaarigen Herrn die Tränen in die Augen treibt. In seiner Stadt war der plötzliche Massenexodus junger Familien besonders heftig. „Ich hätte“, so sagt er, „nie damit gerechnet, dass so viele Bürger so weit gehen und die Stadt einfach verlassen. Sie können es mir glauben: Ich fühle mich sehr schlecht. Ich versuche immer noch zu verstehen, wie es so weit kommen konnte.“
Beate Merk beim Bürgermeister
In dem kleinen, muffigen Sitzungssaal der Stadtverwaltung Vushtrri sitzen dem traurigen Bürgermeister zwei Frauen gegenüber, die sich dieselbe Frage stellen: Bayerns Europaministerin Beate Merk (CSU) und Angelika Viets, die deutsche Botschafterin in Priština. Viets ist die Diplomatin, die mit ihrem Bericht über die dramatische Auswanderungswelle aus dem Kosovo die deutschen Behörden wachgerüttelt hat. Merk ist die erste Politikerin aus Deutschland, die versucht, sich vor Ort ein Bild zu machen und der Regierung des Kosovo zu helfen, den Exodus zu stoppen. Einige Antworten hatten Merk und Viets schon vor ihrem Ausflug nach Vushtrri bekommen – im Innenministerium und bei Premierminister Isa Mustafa. Doch erst der Besuch beim Bürgermeister in Vushtrri zeigt das Problem in seinen vielen, menschlichen wie politischen Dimensionen.
Dass immer wieder Bürger das „Armenhaus Europas“ verlassen und anderswo ihr Glück versuchen, ist seit Jahrzehnten bekannt. Rund 1,8 Millionen Menschen leben im Kosovo, aber geschätzt weitere 400 000 Kosovaren leben und arbeiten im Ausland. Es ist ein Kommen und Gehen. Die reicheren Auslandskosovaren bauen sich daheim gerne Häuser, die sie für den Sommerurlaub nutzen. Sie schicken ihren Verwandten Geld nach Hause. Andere gehen für ein paar Jahre weg und kommen wieder zurück in das Land, in dem die Arbeitslosigkeit bei 45 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit gar bei 70 Prozent und die Armutsquote bei 40 Prozent liegt. Ein Euro pro Tag muss für viele Menschen im Kosovo zum Leben reichen. Vor allem die Landbevölkerung leidet.
Die tiefere Ursache für die aktuelle Auswanderung aber, so heißt es von verschiedenen Seiten in Priština, sei nicht die Armut an sich, sondern die Enttäuschung darüber, dass in dem Land gefühlt so gar nichts mehr vorangeht. Die Spuren der Wut des Volkes über die Regierung und die wuchernde Korruption in dem gelähmten Land lassen sich am Amtssitz des Premierministers beobachten. Die Scheiben des vollverglasten Treppenhauses sind bis in den dritten Stock hinauf gesplittert. Bei einer Demonstration Ende Januar flogen Steine und Molotow-Cocktails. Fast ein Jahr hatte es gedauert, bis nach Wahlkampf und schwierigen Koalitionsverhandlungen wieder eine handlungsfähige Regierung im Amt war. Die Hoffnungen der Bevölkerung auf einen Neuanfang aber wurden enttäuscht.
Die kurioseste Geschichte über die Vetternwirtschaft und Korruption im Land lieferte vor kurzem der Veteranenverband. Die ehemaligen Kämpfer für die Unabhängigkeit des Kosovo von Serbien forderten allen Ernstes, dass ihren Kindern der Zugang zu einem Studium auch ohne entsprechende Schulzeugnisse gestattet werden sollte – also nur deshalb, weil sie Kinder von Veteranen sind. Es dauerte Monate, bis dieses Ansinnen erfolgreich abgewehrt wurde.
Vielsagend ist auch die Geschichte des Geschäftsführers einer Firma aus Deutschland, die sich in einem der wenigen, kleinen Industriegebiete des Landes niedergelassen hat, um dort Lifte zu produzieren. Die Firma hatte, um Mitarbeiter zu bekommen, ganzseitige Stellenanzeigen in Zeitungen geschaltet. Trotz der hohen Arbeitslosigkeit, so berichtet der Mann, sei die Resonanz zunächst praktisch null gewesen. Als er dann begann, nach der Ursache zu forschen, bekam er zur Antwort, eine Bewerbung mache doch ohne persönliche Beziehungen gar keinen Sinn. Der Firma gelang es mit einiger Mühe, dieses Vorurteil auszuräumen. Ihre Botschaft lautete: Bei einem deutschen Unternehmen geht es um Qualifikation und Leistungsbereitschaft, nicht um Vetternwirtschaft oder Bestechung. Der Effekt: Sofort lagen hunderte von Bewerbungen auf dem Tisch.
Kleine Erfolge also gibt es da und dort. In Vushtrri aber überwogen die Rückschläge. Vergangenes Jahr, so berichtet Bürgermeister Mulaku, habe der größte Arbeitgeber der Stadt, ein Metallbetrieb, geschlossen. 437 Beschäftige verloren ihren Job. „437 Jobs, das bedeutet, dass 437 Familien über Nacht kein Einkommen mehr hatten“, sagt Mulaku. Und dann war da auch noch die große Überschwemmung, die hektarweise die Kartoffelernte von Kleinbauern rund um die Stadt vernichtete.
Das ist ein Teil der Erklärung, warum Vushtrri besonders unter dem plötzlichen Exodus litt. Dennoch wusste Mulaku zunächst nicht, wie ihm geschah. Menschen, die alle Bande hinter sich abbrechen, melden sich beim Bürgermeister nicht ab. Dass etwas nicht stimmt, bemerkte die Stadtverwaltung erst anhand der steigenden Anträge auf Ausstellung von Geburtsurkunden für Kinder und Jugendliche unter 16. Damit hat es eine besondere Bewandtnis: Für normale Zwecke reicht eine Geburtsurkunde ohne Foto. Wer aber mit seinen Kindern nach Serbien will, muss eine Geburtsurkunde mit Foto dabei haben. Im Dezember schien noch alles in Ordnung. Die Verwaltung zählte 669 Anträge, davon 60 mit Foto. Im Januar schnellte die Zahl der Anträge rapide hoch: 1126, davon 926 mit Foto. In den ersten Februartagen waren es noch einmal 760 Anträge, davon 680 mit Foto. 4000 bis 5000 Menschen, so schätzt die Stadtverwaltung, haben Vushtrri binnen gut zwei Monaten verlassen. „Das ist die Wahrheit“, sagt Mulaku, „und das tut uns zutiefst leid.“
Unmittelbarer Auslöser waren seiner Beobachtung zufolge Parolen in sozialen Netzwerken. Er spricht von „kriminellen Banden“, die den Hype ausgelöst und die jungen Leute mit falschen Versprechungen weggelockt haben, um ihnen für den Transport bis zur serbisch-ungarischen Grenze und mit allerlei anderen Tricks Geld abzunehmen. Es seien, so sagt er, auch Menschen unter den Auswanderern, die in Vushtrri ordentliche Jobs hatten. Sie hätten zum Teil Hab und Gut verkauft, um wegzukommen. Das sei besonders schlimm, weil sie, wenn sie wieder zurückgeschickt werden, daheim ohne Job und ohne Haus dastehen. Er werde selbstverständlich versuchen, ihnen zu helfen. Aber sein Kummer sitzt tief. „Was mich verletzt hat, das ist, dass es so schnell geschah und alle auf einmal weggingen“, sagt er und fügt noch hinzu: „Ich fühle mich auch schlecht gegenüber Deutschland wegen dieser ganzen Invasion.“
Beate Merk verschlägt es fast die Sprache. „Als frühere Bürgermeisterin“, so sagt sie nach längerem Schweigen, „kann ich verstehen, welche Schmerzen Sie haben.“ Sie berichtet von ihrem Gespräch mit dem Premierminister und von ihrem spontanen Auftritt im kosovarischen Fernsehen. Zur besten Sendezeit durfte Merk dort sagen, dass es für Asylbewerber aus dem Kosovo in Deutschland keine Perspektive gibt. Das Innenministerium hatte den Fernsehauftritt vorgeschlagen. Auch Premier Mustafa hatte ihn begrüßt. Das macht die Hilflosigkeit der Regierung offenkundig: Weil ihr die eigenen Bürger nicht mehr glauben, bitten sie eine bayerische Ministerin vor die Kamera.
Das Ziel: Arbeit in Deutschland
Wirkungslos freilich waren auch die Maßnahmen der Regierung nicht. Das zeigt sich am Busbahnhof in Priština. Dort herrscht nach tagelangem Ausnahmezustand wieder Normalbetrieb. Die Behörden hatten den Busunternehmen kurzerhand gedroht, ihnen die Lizenz zu entziehen, wenn sie weiterhin Leute außer Landes schaffen. Es ist zwar zu vermuten, so sagen Experten vor Ort, dass sich Ausreisewillige nun andere Wege suchen. Bürgermeister Mulaku aber meint, dass die Welle abgeebbt ist. In dieser Woche habe es in seiner Stadtverwaltung, so berichtet er, nur noch drei Anträge auf eine Geburtsurkunde mit Foto gegeben.
Der Besuch in Vushtrri nimmt ein ungewöhnliches Ende. Der Bürgermeister und seine Gäste gehen in eine kleine Pizzeria in einem heruntergekommenen Einkaufszentrum. Der Laden würde in einem bayerischen Bahnhofsviertel wohl gerade noch als Eckkneipe mit Pizzaofen durchgehen. Die Pizza kostet hier 2,50 Euro. Manchmal fällt der Strom aus. Der Pizzabäcker spricht Deutsch, die junge Kellnerin auch, ebenso der Polizist vor der Tür. Nach dem Essen geben Mulaka, Merk und die Botschafterin einem Team des Lokalfernsehens Interviews. Dann dürfen auch die anderen Gäste noch Fragen stellen. Die Situation wandelt sich zu einer Art kosovarischem „Jetzt-red-i“. Doch genaugenommen ist es nur eine einzige Frage, die gestellt wird: Wie bekommt man auf legalem Weg Arbeit in Deutschland?