Ausnahmezustand in einer der größten Städte der USA: Nach heftigen Unruhen hat Baltimore im US-Bundesstaat Maryland die Nationalgarde zu Hilfe gerufen, seine Schulen geschlossen und für mindestens eine Woche nächtliche Ausgangssperren verhängt. In der Nacht auf Dienstag war es in der Ostküstenmetropole zu Großbränden, Plünderungen und Angriffen auf Polizei und Feuerwehr gekommen. 15 Beamte wurden verletzt, davon sechs ernsthaft. Die Eskalation erwischte die neue US-Justizministerin Loretta Lynch am Tag ihrer Amtseinführung.
Am Dienstagmorgen ähnelten Teile der Stadt einer Kriegszone: 144 abgefackelte Fahrzeuge, 15 Gebäudebrände und knapp 200 Festnahmen hat das Rathaus gezählt. Die Feuerwehr wurde bei ihren Löschversuchen massiv behindert, teilweise wurden ihre Schläuche zerstochen. Fassungslose Anwohner mussten eine Nacht lang zusehen, wie ein neuer Drogeriemarkt und ein im Bau befindlicher Komplex mit Seniorenwohnungen niederbrannten – und mit ihnen die Hoffnung auf einen Strukturwandel in einkommensschwachen Gebieten. Die betroffenen Viertel haben sich zum Teil noch nicht von den Rassenunruhen im Jahr 1968 erholt.
Die Gewalt entstand am Rande einer bislang größtenteils friedlichen Protestbewegung gegen die Polizei. Am Montagmittag war in der Stadt der 25-jährige Freddie Gray beerdigt worden, der am 12. April im Gewahrsam der Beamten schwere Rückenmarksverletzungen erlitten hatte. Gray war schwarz, die Hautfarben der sechs betroffenen Staatsdiener hält die Polizei bislang zurück. Erste Untersuchungsergebnisse werden nicht vor dem Wochenende erwartet. Die städtische Sicherheitsbehörde hat aber eingeräumt, dass Gray dringend benötigte Hilfe mehrfach verweigert wurde. Er ist am 19. April gestorben; am Wochenende war es in Baltimore schon einmal zu Gewaltausbrüchen gekommen.
Ärztliche Hilfe verweigert
Nun ist eine neue Stufe erreicht. „Sie waren uns zahlenmäßig einfach überlegen“, sagte der Chef der städtischen Polizei, Anthony Batts, am Dienstag über die Randalierer. Mehrere seiner Beamten haben Knochenbrüche erlitten, einer erreichte das Krankenhaus bewusstlos.
Bürgermeisterin Stephanie Rawlings-Blake sagte, es sei einer der schwärzesten Tage in der Geschichte Baltimores: „Es ist idiotisch zu glauben, dass man durch die Zerstörung seiner Stadt das Leben für irgendjemanden besser macht.“
Grays Familie, ihr Anwalt und zahlreiche afroamerikanische Führungspersönlichkeiten hatten auch am Montag dazu aufgerufen, friedlich zu bleiben. Allerdings warnte die Polizei schon früh vor „glaubhaften Informationen“, wonach drei gewalttätige Gangs sich verabredet hätten, um Polizisten zu töten. Wenig später wurden Oberstufenschüler über soziale Medien zu einer „Säuberungsaktion“ aufgerufen.
Tatsächlich versammelten sich am angegebenen Treffpunkt gegen 15 Uhr zahlreiche junge Menschen, die begannen, Beamte mit Steinen, Ziegeln und Flaschen zu bewerfen. Kritiker glauben, dass die vergleichsweise defensive Reaktion der Sicherheitskräfte die Brandstifter und Plünderer ermutigt hat. Fernsehaufnahmen zeigten Trauben von Menschen, die ungeniert Alkoholgeschäfte ausräumten; später sendeten Medien vor allem das Flammenmeer der brennenden Seniorenanlage ins Land. Zu diesem Zeitpunkt hatte das Baseball-Team Baltimore Orioles sein Spiel gegen die Chicago White Sox bereits abgesagt, die U-Bahn stellte zahlreiche Verbindungen ein. Viele Menschen versuchten, der Gewalt Einhalt zu gebieten. Neben Eltern, die sich auf die Straße begaben, um ihre Kinder zu suchen, redeten christliche und muslimische Geistliche auf die Randalierer ein; auch der demokratische Kongressabgeordnete Elijah Cummings hakte sich unter, um mit etwa 200 Gleichgesinnten zu Gewaltlosigkeit aufzurufen. Es war vergebens. Auf Bitten von Bürgermeisterin Rawlings-Blake erklärte Gouverneur Larry Hogan den Notstand und aktivierte 1500 Soldaten der Nationalgarde. Die Feuerwehr forderte aus 30 umliegenden Kommunen Verstärkung an, die Polizei von Maryland bat Nachbarstaaten um weitere 5000 Beamte. Am gestrigen Dienstag blieben die Schulen der Stadt geschlossen; bis auf weiteres gilt zwischen 22 Uhr und 5 Uhr morgens in der Stadt eine Ausgangssperre.
Die Eskalation in Baltimore ist die erste Bewährungsprobe für die neue amerikanische Justizministerin Loretta Lynch, die am Montag vereidigt wurde. Die 55-Jährige ist nach dem ebenfalls schwarzen Eric Holder die erste afroamerikanische Frau in der Position.
Obama wirbt für Vertrauen
Die Regierung hat den Kampf gegen das Misstrauen zwischen Schwarzen und der Polizei zur Chefsache gemacht. Unter anderem sieht der Haushaltsentwurf von Präsident Barack Obama 97 Millionen Dollar für Körperkameras vor, die Beamte im Einsatz tragen sollen.
In den vergangenen eineinhalb Jahren haben in den USA rund ein Dutzend Tode nach Polizeigewalt gegen Schwarze für Empörung gesorgt. Ein Anwalt der Familie Gray äußerte Vertrauen in Lynchs Aufarbeiten des aktuellen Falls. Über die Nacht in Baltimore sagte ein Cousin des Toten der „Baltimore Sun“: „Das ist keine Gerechtigkeit. Das sind nur Leute, die eine Möglichkeit gefunden haben, Sachen zu stehlen.“