Die Momente, in denen aus der sonst so distanzierten Ursula von der Leyen ein Mensch wie Du und Ich wird, sind selten – aber es gibt sie. An einem Abend im April 2015, zum Beispiel, hat die Verteidigungsministerin in Estland gerade eine neue Einheit der Nato besucht. Sie kommt etwas geschafft zurück in ihr Hotel in Tallinn – und bittet dann die Journalisten aus ihrem Tross, doch einfach mit in ihr Zimmer zu kommen. Eilig werden ein paar Flaschen Bier herbeigeschafft, die Ministerin zieht sich die Schuhe aus, macht es sich auf dem Sofa bequem – und es entspinnt sich ein langes und launiges Gespräch über die Probleme der Bundeswehr und ihre persönlichen Pläne. Auch ein Wechsel nach Brüssel ist damals schon kurz ein Thema, zum Beispiel auf den Posten des Nato-Generalsekretärs. Davon aber will Ursula von der Leyen an diesem Abend nichts wissen.
Nun geht sie doch. Überraschend. Umstritten. Überfallartig. Weil die großen politischen Lager in Europa sich nicht auf einen ihrer Spitzenkandidaten aus dem Wahlkampf verständigen können, zaubern Verhandlungsführer Donald Tusk, der französische Präsident Emmanuel Macron und Bundeskanzlerin Angela Merkel am Dienstag plötzlich die deutsche Verteidigungsministerin als neue Präsidentin der Kommission aus dem Hut, die erste Frau auf diesem Posten überhaupt. Dass sie vom Europaparlament auch gewählt wird, ist zwar noch keineswegs sicher. Ursula Gertrud von der Leyen aber, eine geschickte Vermarkterin ihrer selbst, steckt bereits mitten im Wahlkampf nach der Wahl.
Das Werben und Überzeugen beginnt
Am Mittwoch fliegt sie nach der Kabinettssitzung nach Straßburg, um für sich zu werben, zu überzeugen, Zweifel auszuräumen. Denn von denen, das weiß sie, gibt es viele. Auch einen eigenen Twitter-Account hat sie unter dem Motto „von Herzen Europäerin“ rasch einrichten lassen. Ihre erste kurze Botschaft dort: „Hallo Europa. Hello Europe. Salut l?Europe!“
Wenn ihr Name im Flurfunk vor dem EU-Gipfel überhaupt gefallen ist, dann allenfalls bei der Debatte über die möglichen Nachfolger für die Außenbeauftragte Federica Mogherini – ein Metier, in dem die Ministerin schon lange zu Hause ist. Bei allen Problemen, die sie mit den explodierenden Kosten bei der Gorch Fock hat, mit umstrittenen Beraterverträgen in ihrem Ministerium oder der notorischen Mangelwirtschaft in der Bundeswehr – das Verteidigungsressort bietet ihr auch eine internationale Bühne, die sie von der Münchner Sicherheitskonferenz bis zu den regelmäßigen Nato-Treffen gut und gerne bespielt.
Ein Land wie Deutschland, argumentiert Ursula von der Leyen immer wieder, müsse mehr Verantwortung in der Welt übernehmen, notfalls auch militärisch. Mit den Waffenlieferungen an die Kurden in das Kriegsgebiet im Nordirak hat sie sogar ein deutsches Tabu gebrochen. Weniger wohlmeinende Abgeordnete verpassen ihr den Spitznamen „Flinten-Uschi“.
Diese kleinen Gehässigkeiten des politischen Alltags lächelt Ursula von der Leyen mit der Gewissheit einer Frau weg, die weiß, was sie kann, und die politische Durchsetzungsfähigkeit nicht als reine Männerdisziplin begreift. Unter anderen Umständen, in einer anderen Zeit, wäre die Tochter des früheren niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht vermutlich als Idealbesetzung für das höchste politische Amt durchgegangen, das EU-Europa zu vergeben hat: Geboren und aufgewachsen in Brüssel, wo ihr Vater schon Kabinettschef eines Kommissars war, fließend Englisch und Französisch sprechend, erfahren im Regieren, und eine bemerkenswerte Biografie mit sieben Kindern, einem Medizinstudium und einer rasanten politischen Karriere obendrein.
Ein Ergebnis von Kungelei
Nun aber ist sie die Frau, die allen demokratischen Lippenbekenntnissen zum Trotz als Kompromisspräsidentin ausgekungelt wurde, die als Verteidigungsministerin im Moment mehr Probleme als Lösungen hat und zu Hause, in Deutschland, weniger Unterstützer als im übrigen Europa. Sigmar Gabriel, der frühere SPD-Vorsitzende, hält ihren Wechsel nach Brüssel für einen Grund, die Große Koalition aufzukündigen. Weil die Sozialdemokraten strikt gegen von der Leyen sind, muss sich Deutschland bei ihrer Nominierung im Europäischen Rat sogar enthalten – als einziges Land.
Wie es genau zu der späten Volte von Brüssel kam, lässt sich auch am Tag danach noch nicht zweifelsfrei rekonstruieren. Sicher ist nur, dass Ursula von der Leyen ihre Kontakte in die französische Regierung schon seit längerem mit besonderer Hingabe pflegt und neuerdings offenbar auch einen guten Draht zu Macron selbst hat, den sie erst vor wenigen Tagen bei der Luftfahrtschau in Le Bourget getroffen hat. Spätestens dort, sagt ein Mann mit Einfluss in der Koalition, dürfte dem Präsidenten aufgefallen sein, dass die deutsche Verteidigungsministerin perfekt auf Französisch parliere und auch sonst vielleicht für noch höhere Aufgaben geeignet sei. Als klar ist, dass in der Runde der Staats- und Regierungschefs keiner der ursprünglichen Kandidaten durchzusetzen ist, lässt Macron bei von der Leyen anfragen, ob sie zur Verfügung stünde. Die neue Kandidatin selbst erlebt das alles aus der Ferne mit – sie hat sich Anfang der Woche mit einigen ihrer Generäle zu einer Klausur zurückgezogen.
Ursula von der Leyen wird nicht geliebt, aber respektiert. Eine Einzelkämpferin, der es bis heute nicht gelungen ist, sich in ihrer Partei eine Hausmacht aufzubauen, und die deshalb auf Parteitagen regelmäßig die schlechtesten Wahlergebnisse einfährt. Gleichzeitig aber hat sie es mit Zähigkeit und Zielstrebigkeit binnen kürzester Zeit zu einer beispiellosen Präsenz und Prominenz gebracht. Kommunalpolitikerin, Landesministerin, Bundesministerin und jetzt, womöglich, Präsidentin der EU-Kommission: Was bei anderen nicht in ein politisches Leben passt, dauert bei ihr keine 20 Jahre.
Und wie ist es mit dem Kanzleramt?
Ursula von der Leyen überlässt nichts gerne dem Zufall. Aber die Dinge sind zuletzt auch nicht wirklich so gelaufen, wie die 60-Jährige es sich vielleicht gewünscht hätte. Auch deshalb, darf man annehmen, ist ihr Name in den Planspielen über die Post-Merkel-Ära schon länger nicht mehr gefallen. Spekulationen, sie strebe direkt ins Kanzleramt, hat Ursula von der Leyen ohnehin stets mit dem Argument abgewehrt, dafür komme in jeder Generation ja nur einer oder eine in Frage, und das sei in ihrer Generation eben Angela Merkel. Gleichzeitig aber ist die promovierte Ärztin, deren politische Karriere nach ihrer Rückkehr von einem längeren Auslandsaufenthalt in den USA 1990 im Gemeinderat von Sehnde bei Hannover begonnen hat, ehrgeizig genug, es sich trotzdem zuzutrauen. „Gleichgültigkeit“, hat Ursula von der Leyen einmal gesagt, „ist für mich keine Option.“
Das Verhältnis zu ihrer frühen Fördererin Angela Merkel ist allerdings etwas abgekühlt. Als der damalige Bundespräsident Horst Köhler im Mai 2010 als Bundespräsident zurücktritt, lässt die Parteivorsitzende Merkel von der Leyen einen Tag lang im Glauben, sie werde dessen Nachfolgerin. Am Ende zieht die Kanzlerin ihr Christian Wulff vor, die Blamage ist perfekt. Den Fehler, sich zu sicher zu fühlen, wird Ursula von der Leyen deshalb nicht mehr machen. Sie ist nominiert, aber noch nicht durch.