Auch Ministerpräsidenten und Staatsoberhäupter haben ganz irdische Bedürfnisse. Christian Wulff zum Beispiel, sagt sein früherer Sprecher Olaf Glaeseker, sei „so ein Tankstellentyp“. Eine Flasche Saft, ein Schokoriegel dazu, einen Kaffee vielleicht? Wo immer sein Fahrer gestoppt habe, um nachzutanken – stets habe der Chef gefragt, ob er jemandem eine Kleinigkeit mitbringen solle und diese dann auch bezahlt. So einer, soll das wohl heißen, hält lieber andere aus als sich selbst aushalten zu lassen.
Unter den zwei Dutzend Zeugen, die in diesem Verfahren bereits ausgesagt haben, ist der Zeuge Glaeseker vermutlich der, der den Angeklagten Wulff neben seiner Tochter und seinen beiden Ex-Frauen am besten kennt – wenn nicht sogar besser. Dass ihr Verhältnis, vorsichtig formuliert, etwas belastet ist, seit der damalige Bundespräsident ihn Ende 2011 überraschend entließ, lässt er sich bei seinem Auftritt vor dem Landgericht Hannover allerdings nicht anmerken. Im Gegenteil. Der 52-Jährige stützt mit seiner Aussage die von Wulff, der vehement bestreitet, er habe sich als Gegenleistung für eine Einladung zum Oktoberfest etwas zu eilfertig für ein Filmprojekt seines Freundes David Groenewold eingesetzt. Teilweise redet Glaeseker über die Zeit mit Wulff gar so, als sei er noch immer im Dienst – nämlich im Präsens.
Schattenmann und Seelentröster
Tatsächlich haben sie seit jenem Samstag im Juni 2012, an dem Glaeseker noch zu einer Geburtstagsfeier bei Wulff eingeladen war, nicht mehr miteinander gesprochen. Entsprechend betreten schaut der zunächst auch zu Boden, als er sich nach einer Verhandlungspause wieder dem Gerichtssaal nähert und auf dem Flur seinen einstigen Intimus sitzen sieht, der ein paar Minuten zu früh gekommen ist und nun darauf wartet, dass er hereingebeten wird. Der kurze Händedruck und das leise „Hallo Olaf“, mit dem der ehemalige Präsident seinen ehemaligen Sprecher begrüßt, verraten nicht viel über ihr gegenwärtiges Verhältnis. Machen sie womöglich wieder ihren Frieden miteinander, wenn beide Verfahren abgeschlossen sind, das gegen Wulff und das gegen Glaeseker, in dem in drei Wochen Wulff als Zeuge aussagen soll? Oder ist hier wie in einer zerrütteten Ehe für immer etwas zerbrochen? „Ich fühlte mich ihm freundschaftlich verbunden“, sagt Glaeseker vor Gericht, während Wulff verlegen ins Nichts starrt. Ein Mann, der abrechnen will, klingt anders. Jedes Wort, das er zu Protokoll gibt, ist wohl überlegt, teilweise dauern die Denkpausen vor seinen Antworten länger als die Antworten selbst.
Christian Wulff hat ihr Verhältnis einmal mit dem von siamesischen Zwillingen verglichen, bei denen der eine auch nicht ohne den anderen sein kann. Wo er ist, ist schließlich auch Glaeseker – und umgekehrt. Zwölf Jahre lang ist der gelernte Journalist der Schattenmann des aufstrebenden Niedersachsen. Nicht nur Sprecher, sondern Berater. Vertrauter. Seelentröster. Ihr Verhältnis, sagt er im Rückblick, sei weit über das rein Dienstliche hinaus gegangen. Umso härter hat es ihn getroffen, dass auch gegen ihn ermittelt wird. „Ich war immer nur der Mann im Hintergrund“, beteuert Glaeseker. „Der Arbeiter im Weinberg des Herrn.“
Er ist es, der den etwas biederen Oppositionsführer aus Osnabrück vor der Landtagswahl 2003 so geschickt in Szene setzt, dass aus einer vermeintlichen Schwäche eine Stärke wird: langweilig – aber zuverlässig. Er ist es, der nach Wulffs Trennung von seiner ersten Frau Christiane die Aufmerksamkeit des Boulevards auf die neue Freundin des Ministerpräsidenten lenkt und ihm einen öffentlichen Rosenkrieg erspart. Und wenn Wulf, schon zum Bundespräsidenten aufgestiegen, sich mit seiner neuen Ehefrau Bettina und einigen Leibwächtern nach einer lagen Arbeitswoche am Freitagnachmittag in Berlin noch zum Basketball verabredet, fährt Glaeseker nicht nach Hause zu seiner Frau ins Steinhuder Meer, sondern ist wie selbstverständlich mit dabei.
Mit Wulffs Wahl ins höchste Staatsamt, dem Wechsel aus Hannover nach Berlin, der neuen Aufmerksamkeit und der neuen glamourösen Umgebung, beginnt allerdings auch diese ungewöhnlich enge politische Freundschaft allmählich zu erodieren. „Man kann niemanden beraten, der sich nicht mehr beraten lassen will“, sagt ein CDU-Mann, der beide gut kennt, damals. Ob es dafür einen konkreten Anlass gibt oder nur ein diffuses Gefühl, sich irgendwie auseinandergelebt zu haben, ist bis heute unklar. In den turbulenten Wochen vor seinem Rücktritt zieht Wulff Glaeseker jedenfalls nicht mehr ins Vertrauen, er sucht nicht mehr dessen Rat, auf den er sich so lange verlassen hat, sondern ein Opfer – und trennt sich von seinem Sprecher, als der ebenfalls in Verdacht gerät, Dienstliches und Privates nicht sauber getrennt zu haben.
Zwei Tage vor Heiligabend sitzt Glaeseker im Dezember 2011 im Zug von Berlin nach Hannover, die Entlassungsurkunde in der Tasche. Heute sagt er, noch immer ein wenig irritiert von dem, was er da durchlitten hat: „Das sind schon psychische Grenzerfahrungen.“ Direkt ins Gesicht sehen kann oder will er Wulff deshalb vor Gericht nicht. Mit David Groenewold ist er heute noch eng befreundet. Mit Wulff nicht mehr.
Seine Bitte, im Zuge der Ermittlungen doch einige Dinge zurecht zu rücken, hat der schon im Januar 2012 per SMS kühl abgelehnt: „Es nützt Dir nichts, wenn ich davon weiß, aber es schadet mir massiv, ich steh hier unter Druck.“ Auch später, bei seiner Vernehmung durch die Staatsanwaltschaft, klingt der inzwischen zurückgetretene Präsident, als habe er nie gewusst, wie eng sein Sprecher mit dem Partyveranstalter Manfred Schmidt befreundet war, der eine Menge Geld an einer Veranstaltung mit dem Schirmherren Christian Wulff verdient und Glaeseker als Dank für dessen Hilfe mit Urlauben in seinen Feriendomizilen dafür belohnt haben soll. Spätestens da ist klar: Wulff hat seinen langjährigen Vertrauten fallen gelassen, die siamesischen Zwillinge aus Hannover sind getrennt, wenn auch nicht ganz schmerzfrei.
Die Frage des Richters, was er denn von Beruf sei, beantwortet Glaeseker erst nach einigem Zögern. „Journalist“, sagt er dann leise, als sehne er sich zurück in sein altes Leben. Zur Sache selbst steuert auch er nicht viel bei. An vieles von dem, was ein detailversessener Staatsanwalt ihm aus alten Mails und handschriftlichen Vermerken vorliest, kann er sich nicht mehr erinnern oder kennt es nur vom Hörsagen und vom Zeitungslesen. Die Filmförderung fiel in Hannover nicht in seinen Zuständigkeitsbereich, und dass der mit angeklagte Groenewold ein ungewöhnlich großzügiger Mensch ist, das haben in diesem Verfahren auch schon jede Menge anderer Zeugen bestätigt.
Zum Oktoberfest 2008, um das sich hier alles dreht, hatte der umtriebige Filmmensch damals auch den Kumpel Glaeseker eingeladen, der aber sagte kurz vorher ab, weil er krank war, und weiß deshalb auch nicht, wer damals wann in München mit wem geredet und gegessen hat. Im noblen Bayerischen Hof jedoch, versichert er, wären seine Frau und er auf keinen Fall abgestiegen. Sie hatten sich schon nach einem günstigeren Hotel umgesehen.
Unscharfes Foto auf dem Handy
Wulff verfolgt die Aussage mit einem zufriedenen Lächeln. Dieser Zeuge, das spürt er als gelernter Jurist schnell, wird ihm nicht gefährlich werden. Nur einmal fährt er für einen Moment aus der Haut und droht sogar damit, sich nach Paragraf 233 der Strafprozessordnung von der weiteren Teilnahme an dem Verfahren befreien zu lassen – als Oberstaatsanwalt Clemens Eimterbäumer Glaeseker nach einer ebenso langatmigen wie unergiebigen Fragerunde ein unscharfes Foto zeigt, das auf Groenewolds Handy gespeichert war und Wulff mit einem Zettel in der Hand zeigt, auf dem er seinem kranken Sprecher vom Oktoberfest aus gute Besserung wünscht.
Nicht nur der Angeklagte fragt sich in diesem Moment, was das eigentlich noch mit den Vorwürfen gegen ihn zu tun hat. Auch der Vorsitzende Richter Frank Rosenow zeigt Eimterbäumer mit einer verächtlichen Handbewegung, was er davon hält, nämlich nicht allzu viel. Rosenow dauert das ganze Verfahren schon viel zu lange. Noch im Februar will seine Kammer deshalb ihr Urteil fällen – und vermutlich ahnt Christian Wulff schon, dass es nicht zu seinem Nachteil ausfallen wird.