Über 60 000 Tuk-tuks rollen über Neu-Delhis holperige Straßen. Die dreirädrigen Motorikschas sind meist voll von Werbesprüchen für Restaurants oder Telefongesellschaften. Ein Fahrer aber hat eine ganz andere Botschaft auf sein Gefährt gepinselt: die „1091 1098“ – eine Notrufnummer für Frauen.
Seit im Dezember die Vergewaltigung einer jungen Frau durch eine Gruppe Männer weltweit für Schlagzeilen sorgte, gilt Indien, und vor allem die Hauptstadt, als gefährliches Pflaster für Frauen. Nun sorgte die Vergewaltigung eines fünfjährigen Mädchens in der vergangenen Woche für eine neue Welle der Entrüstung mit Protesten im ganzen Land.
Dabei ist das Problem nicht neu. „Wer kann sie stoppen?“ fragte die Lokalzeitung „Hindustan Times“ schon vor zwei Jahren – und meinte eine Serie von sexuellen Übergriffen innerhalb eines einzigen Monats in Neu-Delhi. Die Stadt gilt laut einer Umfrage bei indischen Frauen als besonders gefährlich. 87 Prozent der Befragten gaben an, sich auf den nächtlichen Straßen der 20-Millionen-Metropole unsicher zu fühlen.
Mädchen gelten als weniger wert
Alle 20 Minuten soll es auf dem Subkontinent zu einer Vergewaltigung kommen. Vor allem in der Landbevölkerung gelten Mädchen als weniger wert – und im Falle einer Heirat als Anlass für den finanziellen Bankrott. Denn die traditionell äußerst aufwendige Hochzeit und die Mitgift zahlen stets die Brauteltern. In manchen Regionen wird daher gezielt abgetrieben oder neugeborene Mädchen werden umgebracht. Die Folge ist eine Schieflage bei der Geschlechterverteilung: Auf zehn Männer kommen in ländlichen Landesteilen nur noch neun Frauen.
„Gewalt gegen Frauen ist in der Tat ein generelles Problem des Landes“, sagt Heiko Sievers, der Leiter des Goethe-Instituts in Neu-Delhi. Doch es seien nicht nur ungebildete Slumbewohner und Wanderarbeiter, von denen die Gewalt gegen Frauen ausgehe. „Die Täter sind auf jeder Ebene der Gesellschaft zu finden, und ein hoher Anteil der Vergewaltigungen passiert in den Familien“.
Die internationale Berichterstattung über die Vorfälle beschmutzt mittlerweile auch das Image des Landes im Ausland. So meldete der indische Wirtschaftsverband Assocham, dass im ersten Quartal ein Viertel weniger Touristen ins Land gereist seien, als im Jahr zuvor. Vor allem Frauen aus westlichen Staaten würden Indien zunehmend als Reiseziel meiden. Rund 300 000 Deutsche besuchten im vergangenen Jahr das Land. Einige davon mit dem Münchner Indien-Spezialisten Asien Special Tours. „Viele unserer Kunden sind in den vergangenen Monaten mit positiven Eindrücken zurückgekehrt“, heißt es, aktuell würden die Indien-Buchungen allerdings tatsächlich zurückgehen. Dies könne aber auch mit der beginnenden Nebensaison auf dem Subkontinent zu tun haben.
Noch ist es bei knapp 40 Grad in Delhi zwar heiß, aber trocken. Und so sind immer wieder Touristengruppen zu sehen. Sie aber müssen derzeit einige Einschränkungen hinnehmen. So war zuletzt der Platz um das India Gate, dem Wahrzeichen der Hauptstadt, abgesperrt. Aus Sicherheitsgründen, wie es heißt.
Kritik an der Rolle der Polizei
Doch gerade die Rolle der Polizei wird von Demonstranten und Medien mittlerweile offen kritisiert. Nun hat sich sogar der Wirtschaftsverband Assocham dazu geäußert: Politik und Polizei würden ihrer Aufgabe, die Bürger, und vor allem Frauen und Kinder, zu beschützen nicht gerecht. Wie die indischen Sicherheitsbehörden bisweilen arbeiten, zeigt der Fall der vergewaltigten Fünfjährigen. Ein Polizist soll dem Vater des Kindes 2000 Rupien, das sind knapp 30 Euro, angeboten haben, damit dieser still hält. Ein weiterer Grund für die indischen Protestler Reformen einzufordern.
Und wie gehen westliche Frauen mit der Lage im Land um? Eine Deutsche, die seit mehreren Jahren in Neu-Delhi lebt, aber ihren Namen nicht in den Medien lesen will, berichtet. „Wir waren uns der Gefahr schon vorher bewusst“, sagt sie: „Westliche wie indische Frauen vermeiden es daher stets, spät abends allein und mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs zu sein.“ Doch in den vergangenen Wochen spüre sie einen gewissen Stimmungsumschwung. „Wir haben gesehen, dass Teile der indischen Gesellschaft nicht mehr bereit sind, die Untätigkeit von Politik und Polizei sowie das verquere Frauenbild in einigen Köpfen einfach hinzunehmen. Das Ausmaß der Proteste gibt mir ein gutes Gefühl.“
Indien
Land der Gegensätze, das beschreibt die Situation in Indien nur unvollkommen. Nirgends auf der Welt ist der Unterschied zwischen Arm und Reich so groß: Auf der einen Seite Milliardäre und eine extrem konsumorientierte Mittelschicht – auf der anderen Seite etwa 600 Millionen Menschen, die von weniger als einem Dollar am Tag leben müssen. Experten sagen, dass nur Kastensystem und Religion (70 Prozent Hindus) das Land zusammenhalten.
Die aktuelle Wirtschaftskrise verschärft derzeit jedoch die gesellschaftlichen Spannungen. Mit einem jährlichen Wachstum von vergleichsweise geringen fünf Prozent (lange waren acht bis zehn Prozent üblich) kann Indien immer mehr jungen Menschen keine berufliche Perspektive geben. Und es gibt viele junge Menschen: Zwei Drittel der 1,2 Milliarden Inder sind unter 35 Jahre alt – ein Jahrgang umfasst also etwa 20 bis 25 Millionen Menschen.
Als größte Demokratie der Welt, ausgestattet mit einem von den Briten hinterlassenen Rechtssystem und der weit verbreiteten englischen Sprache, gilt Indien – entsprechende Reformen vorausgesetzt – als aufstrebendes Schwellenland – und als gigantischer Zukunftsmarkt: Schon bald dürfte Indien China (1,3 Milliarden Menschen, aber geringes Wachstum aufgrund der Ein-Kind-Politik) als bevölkerungsreichstes Land der Erde überholen. Text: md