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Auferstanden als Ruine
Fünf Jahre nach dem Erdbeben in Haiti: Trotz internationaler Hilfe für den Karibikstaat geht es den Menschen dort heute kaum besser als vor der Katastrophe. Doch es gibt auch Hoffnung. Und das liegt an Idealisten wie Jean Gardy Marius.
Fünf Jahre danach: Beim großen Erdbeben vom 12. Januar 2010 brach innerhalb weniger Sekunden die Kathedrale der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince in sich zusammen. Noch heute ist die Kirche eine Ruine – und steht symbolisch für das ganze Land. Für 100 000 Haitianer, die noch immer in Zeltlagern leben, ist das Provisorium zum Dauerzustand geworden.
Foto: Ulises Rodigruez, dpa | Fünf Jahre danach: Beim großen Erdbeben vom 12. Januar 2010 brach innerhalb weniger Sekunden die Kathedrale der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince in sich zusammen.
reda
 |  aktualisiert: 15.01.2015 17:58 Uhr

Das halbe Dorf ist nach Rousseau gekommen, um Mireille heimzuholen. Sie kommt mit dem Tap Tap, wie die bunt bemalten, offenen Busse hier genannt werden. Zwischen den beiden Holzbänken, auf denen sich normalerweise die Passagiere drängen, steht der glänzend weiß lackierte Sarg mit Mireille. Als die Männer die billige Holzkiste aus dem Bus zerren, mit dem sie die Leiche aus dem Kühlhaus abgeholt haben, brechen die versilberten Beschläge ab. Der Sarg knallt mit einem dumpfen Schlag auf den Boden. Die Männer öffnen den Deckel, um nachzusehen, ob unter dem weißen Tüll, der aus dem Sarg quillt, tatsächlich Mireille liegt.

Die 37-Jährige hat ihre Zwillinge – wie ihre anderen drei Kinder auch – zu Hause bekommen. So, wie es üblich ist in ihrem Dorf hoch oben in den Bergen, wo es noch nicht einmal eine Hebamme gibt. Es kommt zu Komplikationen. Als ihre Verwandten sie Tage später sechs Stunden weit hinunter zu den Ärzten tragen, ist es zu spät. Jetzt wuchten die Männer in Flip-Flops den Sarg auf die Schultern und laufen los. Singend, tanzend, betend. Bis in die Nacht hinein werden sie unterwegs sein, bis sie Mireille zurückgebracht haben zu ihrer Familie in La Colline.

2,3 Ärzte auf 10 000 Menschen

Mehr als drei Viertel aller Frauen in Haiti bringen ihre Kinder zu Hause zur Welt, sagt Dr. Jean Gardy Marius, der Leiter der kleinen Krankenstation in Rousseau. 625 von 100 000 Frauen sterben bei der Geburt und 52 von 1000 Kindern. „Das ist die höchste Mütter- und Kindersterblichkeit in der Karibik“, sagt der 44-jährige Mediziner. Es gibt zu wenig Ärzte, zu wenig Schwestern, zu wenig Dorfhebammen. Und die paar, die es gibt, sind nie in Geburtshilfe ausgebildet worden. Jean Gardy Marius belegt die Not mit Zahlen: In Haiti kommen auf 10 000 Menschen gerade einmal 2,3 Ärzte. In der Dominikanischen Republik sind es 100, in Kuba 125.

Das will Jean Gardy Marius nicht akzeptieren. Er hat die Organisation Osapo („Oganizasyon Sante Popile“) gegründet, was übersetzt „Volksgesundheit“ heißt. Und er hat hier in Rousseau, etwa 70 Kilometer nördlich der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince, Anfang 2008 begonnen, mit mobilen Ärzteteams die Menschen auf dem Land zu behandeln. Menschen, die keinen Zugang zu ärztlicher Versorgung haben. „Am ersten Tag kamen 1300 Patienten, so groß war der Bedarf“, sagt Jean Gardy Marius. 52 000 Menschen lebten damals in den 23 Dörfern um Rousseau, heute sind es 70 000, weil viele aus den zerstörten Orten nach dem Erdbeben 2010 in die Gegend geflüchtet sind.

Wie geht es den Menschen in Haiti heute, fünf Jahre nach der Erdbeben-Katastrophe? Wenn man durch Port-au-Prince fährt, sieht die Stadt sehr viel moderner aus als vor dem Beben. Die Ausfallstraßen sind breiter geworden und frisch asphaltiert, die Straßenränder sind gefegt, die Parks und Grünflächen, auf denen tausende Zelte und Bretterverschläge standen, sind neu angelegt. Die Schutthaufen sind verschwunden, viele Häuser notdürftig zusammengeflickt. Im Zentrum, am Champ de Mars, wo die Überreste des weißen Präsidentenpalastes standen, ist nur eine riesige Rasenfläche geblieben. In den umliegenden Straßen entstehen hinter Wellblechverschlägen neue Ministerien, Büros, Verwaltungsgebäude – finanziert von befreundeten Staaten wie Venezuela oder Taiwan.

Im Nobelvorort Petionville, dem teuersten Viertel der Stadt, gibt es Luxushotels, schicke Supermärkte, teure Restaurants, die mit den internationalen Helfern und den UN-Mitarbeitern gute Geschäfte machen. Im Hafenviertel von Port-au-Prince ist das anders: Hier ist nur der Eisenmarkt schick. Der Mobilfunkriese Digicel hat das Kolonialgebäude von 1889 restaurieren lassen. In den rot und grün gestrichenen Markthallen bieten ein paar Künstler ihre Schnitzereien an und umwerben die wenigen Kunden. Neben dem bewachten Markt findet das normale Leben statt. Ein Alltag in Ruinen, in Müll und Dreck. Vor Häusern, die in Fragmenten aus der Erde ragen, zwischen verbogenen Eisenteilen und eingestürzten Wänden verkaufen die Händlerinnen Mangos, Bohnen und Reis.

Hier sieht es aus, als wäre das Erdbeben erst gestern passiert. Von Normalität ist man weit entfernt, Armut und Not gehören zum Alltag. Rund 100 000 Menschen leben nach Schätzung der Vereinten Nationen noch in Notunterkünften, die eigentlich nur eine kurzfristige Lösung sein sollten. In den Hügeln rund um Port-au-Prince sind längst neue Slums entstanden – ohne Wasser, ohne Strom, ohne Zukunft.

Auch die Reste der Kathedrale sind noch da, die vor fünf Jahren innerhalb weniger Sekunden in sich zusammensackte und den Erzbischof unter sich begrub. Die Ruine ist das traurige Sinnbild eines gescheiterten Staates. Wer an der Kirche aus dem Auto steigt, wird von herumlungernden Obdachlosen aggressiv angebettelt und manchmal auch beschimpft, weil es den Menschen zu langsam geht mit dem Wiederaufbau. Und weil sie sich von den internationalen Helfern immer noch mehr Geld erwarten.

„Zwölf Milliarden US-Dollar wurden uns von der Weltgemeinschaft versprochen“, hat sich Haitis Präsident Michel Martelly kürzlich beklagt, „doch nur vier Milliarden Dollar haben Haiti bisher erreicht.“ Tatsächlich sind 90 Prozent der Gelder laut einer UN-Studie an der Regierung vorbeigeflossen, sie wurden von den Hilfsorganisationen direkt investiert: in Nothilfe und Fahrzeuge, in Personal und den Import von Baumaterialien. Zu gering ist das Vertrauen in die korrupten Strukturen des Landes, zu instabil ist die politische und soziale Lage.

Zehntausende wütende Haitianer sind in den vergangenen Wochen auf die Straße gegangen. Sie fordern endlich demokratische Wahlen. Wegen eines Dauerstreits zwischen Regierung und Opposition hat Präsident Michel Martelly die seit drei Jahren fälligen Parlaments- und Regionalwahlen im letzten Oktober auf unbestimmte Zeit verschoben. Jetzt, fünf Jahre nach dem Beben, laufen die meisten Mandate aus, Haiti steht ohne Parlament da – und Martelly, der ehemalige Schlagersänger, regiert wohl ab sofort per Dekret.

Es fehlt also an allem: an einer schlagkräftigen, ehrlichen Regierung; an Investitionen und Arbeitsplätzen; an Schulen und Gesundheitseinrichtungen – wie der kleinen Gesundheitsstation des Arztes Jean Gardy Marius, die dieser inzwischen mithilfe der deutschen Organisation „action medeor“ in Rousseau gebaut hat. Sie ist besser ausgestattet als die meisten Krankenhäuser in Haiti. In dem hellen, sauberen Gebäude gibt es ein Labor, einen Operationssaal, Behandlungsräume, Krankenzimmer und eine Apotheke voller deutscher Medikamente. Anders als bei vielen Projekten internationaler Organisationen müssen die Patienten hier für die Behandlung, das Labor und die Medikamente bezahlen – 150 Gourdes, etwa 2,70 Euro. Das ist viel Geld in Haiti, wo 80 Prozent der Bevölkerung von weniger als zwei Dollar am Tag leben. „Doch nur was etwas kostet“, sagt Marius, „ist auch etwas wert.“

Die Mediziner starben oder gingen

Beim Erdbeben, das die Haitianer in ihrer lautmalerischen kreolischen Sprache Goudougoudou nennen, wurden 60 Prozent des ohnehin fragilen Gesundheitssystems zerstört, viele Schwestern und Ärzte starben – oder haben das Land verlassen. So wie 85 Prozent aller besser Gebildeten, die ihrer Heimat den Rücken kehren wollen, sobald sie können. Schließlich lässt sich in den USA oder in Kanada viel mehr Geld verdienen. „Es gibt mehr haitianische Ärzte außerhalb Haitis als im Land“, schimpft Jean Gardy Marius – und erzählt seine Geschichte.

Mit elf Jahren, sagt der Muskelmann, der aus einer armen Familie stammt und dessen Mutter Analphabetin war, wird er von seinem Stiefvater aus dem Haus gejagt. Er war auf ihn losgegangen, weil er die Mutter verdroschen hat. In Port-au-Prince lebt er auf der Straße und hat mit 13 einen Unfall, von dem ihm eine breite Narbe auf der Stirn geblieben ist. Dann trifft er einen Missionar, der ihn wieder auf die Schule schickt – und später zum Medizinstudium in die Dominikanische Republik. „Ich musste ihm versprechen, als Arzt in mein Land zurückzukehren“, sagt Jean Gardy Marius. 2006 hat er das gemacht – nach 13 Jahren im Nachbarland und nach einem gut bezahlten Job bei einer amerikanischen Hilfsorganisation. „Hier bin ich richtig“, sagt Marius, der sich selbst „einer der besten Ärzte im Land“ nennt.

Und er sagt: „Es ist nicht die Aufgabe der internationalen Hilfsorganisationen, unser Land aufzubauen. Das ist die Aufgabe von uns Haitianern.“ Denn: Nur wenn möglichst viele Landsleute zurückkehren, gibt es Hoffnung für Haiti.

Haiti und das Erdbeben

Am 12. Januar 2010 wurde Haiti von einem Erdbeben der Stärke 7,2 auf der Richterskala erschüttert. Es war eine der größten Naturkatastrophen aller Zeiten. Laut UN starben mindestens 220 000 Menschen, 310 000 Menschen wurden verletzt, 1,5 Millionen obdachlos. Die staatlichen Institutionen brachen weitgehend zusammen. Im Oktober 2010 kam ein Ausbruch der Cholera hinzu. Die ganze Welt versprach riesige Summen an Hilfsgeldern – insgesamt etwa zwölf Milliarden US-Dollar. Tatsächlich angekommen ist nicht einmal die Hälfte. Text / Foto: Kümpfbeck Dr. Jean Gardy Marius hilft, seine Heimat wieder aufzubauen.

 
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