Schon kurz nach Beginn des zweiten Tages im Prozess gegen Mesale Tolu am Montagvormittag haben viele im Gerichtssaal das Gefühl, dass die Verteidigungsreden vor dem Richter und die Aussagen der Angeklagten nur noch Formsache sind. Denn gleich zum Auftakt der Sitzung im Justizpalast im Istanbuler Stadtteil Caglayan hat der Staatsanwalt das Wort ergriffen – und die Freilassung aller Angeklagten beantragt.
Nachdem die Bundesbürgerin Tolu und fünf andere Beschuldigte auf Betreiben der Anklage wegen Terrorverdachts den größten Teil des Jahres in Haft zugebracht haben, sollen sie jetzt plötzlich auf freien Fuß gesetzt werden. Das Gericht stimmt dem Antrag am frühen Nachmittag zu und macht ein Weihnachtswunder zur Wirklichkeit, das zugleich ein deutliches politisches Signal ist. „Ich hatte den Eindruck, dass das Urteil schon feststand“, sagt die zum Tolu-Prozess nach Istanbul gereiste Bundestagsabgeordnete Heike Hänsel hinterher. Sie steht mit dieser Meinung nicht allein.
Als der Beschluss verkündet wird, fallen sich Tolu und ihre Mitangeklagten in die Arme, auf dem Flur vor dem Gerichtssaal brandet Beifall auf. Tolu wird zum Frauengefängnis im Stadtteil Bakirköy gebracht, um ihre Sachen zu holen und die Entlassungsformalitäten zu erledigen.
Nach den Auflagen des Gerichts darf Tolu die Türkei nicht verlassen und muss sich für die Dauer des Verfahrens jeden Montag bei der Polizei melden, um mit ihrer Unterschrift zu beweisen, dass sie nicht geflohen ist. Der Prozess geht am 26. April weiter, doch mit einem Urteil ist erst im kommenden Sommer zu rechnen, sagt Tolus Anwalt Keles Öztürk unserer Zeitung in Istanbul: „Es müssen noch Zeugen gehört und Beweismittel ausgewertet werden – das dauert.“
Politisch ist aber erst einmal wichtig, dass die zusammen mit mehr als einem Dutzend anderen Beschuldigten angeklagte Tolu freikommt. Die Vorwürfe gegen die aus Ulm stammende 33-jährige Übersetzerin bei der linken Nachrichtenagentur Etha seien juristisch ohnehin unhaltbar, sagt Anwalt Öztürk. Die Anklageschrift, die Tolu und den anderen die Unterstützung für eine linke Terrorgruppe vorwirft, sei „inhaltsleer“, so Öztürk.
Das glaubt auch Tolus Vater Ali Riza Tolu, der sich seit Monaten in der Türkei für seine Tochter einsetzt. Nach der Entscheidung vom Montag freut er sich darauf, Mesale einen „dicken Kuss“ zu geben und mit der Familie zusammen zu feiern. Die Freilassung löste auch in Tolus Heimatstadt Ulm große Freude aus. Nach ihrer Haftentlasung wird die Noch-Angeklagte auch ihren kleinen Sohn Serkan wieder in die Arme schließen können, den sie zeitweise hinter Gittern bei sich hatte. Tolus ebenfalls angeklagter Ehemann Suat Corlu war bereits im November freigekommen.
Mesale Tolu war am 30. April festgenommen worden. Dass sie nun plötzlich und trotz der Haftandrohung von bis zu 15 Jahren auf freien Fuß gesetzt wird, lässt an den Fall Peter Steudtner denken: Auch der Berliner Menschenrechtler war nach Monaten der Haft im Oktober freigelassen worden. Und auch in seinem Fall war die Freilassung von derselben Staatsanwaltschaft gefordert worden, die den Angeklagten bis dahin als gefährlichen Terrorhelfer hingestellt hatte.
Die jähen Kursänderungen der Anklage in beiden Fällen lassen Beobachter auf politische Motive schließen. „Das ist ein positives Signal nach Berlin“, sagt die Linke-Abgeordnete Heike Hänsel in Istanbul. Dennoch spricht sie von einer „Freilassung zweiter Klasse“ für Tolu, weil das Verfahren gegen sie ja weitergehe. Auch Enthüllungsjournalist Günter Wallraff, der regelmäßig zu Gerichtsprozessen gegen Medienvertreter in die Türkei kommt, sieht politische Motive. „Ich werde den Eindruck nicht los, dass das Ganze vorher beschlossen war“, sagt er. Es handele sich um einen „Schauprozess, aber mit positivem Ende“.
Dass der Istanbuler Gerichtsbeschluss mehr ist als eine interessante juristische Pirouette, glaubt auch die Bundesregierung in Berlin. „Das sind nicht nur gute Nachrichten, sondern das ist auch eine immense Erleichterung“, erklärt Bundesaußenminister Sigmar Gabriel. „Damit ist das Verfahren noch nicht beendet, aber ein erster, großer Schritt ist damit gemacht.
“ Der deutsche Botschafter in der Türkei, Martin Erdmann, der bei Tolus Freilassung im Gerichtssaal war, richtet unterdessen den Blick auf andere Bundesbürger, die noch in türkischer Haft sind. „Auch die müssen freikommen“, fordert er.
Nach Steudtner und Tolu ist jetzt Deniz Yücel an der Reihe, will Erdmann damit sagen. Der Korrespondent der „Welt“ sitzt seit Februar in Haft, ohne dass es eine Anklageschrift oder einen Termin für ein Gerichtsverfahren gäbe. Kürzlich durfte Yücel im Gefängnis von Silivri vor den Toren Istanbuls die Einzelzelle verlassen; seitdem kann er zumindest beim Hofrundgang mit einem ebenfalls inhaftierten türkischen Journalisten reden. Für das Auswärtige Amt in Berlin hat das Schicksal des „Welt“-Reporters Priorität.