
Es sind zwei junge Polizisten, die am frühen Freitagmorgen in der Mailänder Vorstadt auf Streife gehen: Cristian M., 36 Jahre alt, und Luca S., 29 Jahre alt und gerade einmal neun Monate im Dienst. Einen Tag vor Weihnachten sind die beiden nachts im Streifenwagen in Sesto San Giovanni unterwegs, eine trostlose, ehemalige Industriehochburg im Mailänder Speckgürtel. Es ist eine Routine-Streife, deren Ende in der ganzen Welt für Aufsehen sorgen wird. „Dank Personen wie diesen können die Italiener noch glücklichere Weihnachten feiern“, wird der italienische Innenminister Marco Minniti auf einer Pressekonferenz am Freitagvormittag etwas melodramatisch über die beiden Beamten schwärmen.
Denn zu diesem Zeitpunkt ist klar: Die beiden Polizisten haben Anis Amri, den mutmaßlichen Attentäter von Berlin, gestellt und nach einer Schießerei getötet. Es handele sich bei dem Toten „zweifelsfrei“ um Amri, bestätigt Innenminister Minniti. Nach dem 24-Jährigen war europaweit gefahndet worden, weil er dringend verdächtigt wurde, am Montag zwölf Menschen bei einem terroristischen Anschlag getötet und Dutzende verletzt zu haben.
Mit einem Lastwagen soll Amri elf Menschen auf dem Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz überfahren haben, der polnische Fahrer des Lastwagens wurde im Führerhaus erschossen. Möglicherweise, so berichten italienische Medien, mit derselben Waffe, die Amri wenige Tage später auch in Sesto San Giovanni zieht.
Es ist kurz nach drei Uhr morgens, als die beiden Polizisten einen jungen Mann vor dem geschlossenen Bahnhof von Sesto San Giovanni laufen sehen. Der Mann mit Rucksack ist den beiden verdächtig. Die Mailänder Polizei hat zu diesem Zeitpunkt keinerlei Hinweise, dass sich Amri in Italien aufhalten könnte. Aber ein maghrebinisch aussehender Mann mitten in der Nacht weckt in diesen Tagen vielerorts Verdacht. Cristian M. fordert den Passanten auf, sich auszuweisen. Der antwortet in gebrochenem Italienisch, er führe keine Dokumente mit sich und stamme aus Kalabrien. Als die Beamten den Inhalt seines Rucksacks sehen wollen, zieht der Mann eine geladene und schussbereite Pistole Kaliber 22 heraus und eröffnet das Feuer.
Dann schimpft er auf die Polizisten, sie seien „Bastarde“. So berichtet es am Freitagmittag der Mailänder Polizeichef Antonio De Iesu.
Cristian M., den Innenminister Minniti auf seiner Pressekonferenz als „außerordentliche Person und besonders motiviert“ hervorheben wird, geht zu Boden. Der Schuss hat ihn an der Schulter verletzt, die italienische Polizei zeigt am Nachmittag die Dienstuniform des Polizisten, in der das Einschussloch zu sehen ist. Polizeichef De Iesu berichtet, Amri habe versucht hinter dem Polizeiwagen in Deckung zu gehen. Zu diesem Zeitpunkt hat längst auch der noch in Probezeit bei der italienischen Polizei beschäftigte Luca S. seine Dienstwaffe gezogen. Er läuft in Richtung des Autos, gibt zwei Schüsse auf den Verdächtigen ab, der tödlich getroffen zu Boden sinkt und etwa zehn Minuten später stirbt.
In Amris Rucksack werden später mehrere Hundert Euro sowie ein kleines Messer gefunden. Dazu Duschgel und Zahnpasta, aber keinerlei Dokumente und auch kein Mobiltelefon. „Er ist ein Gespenst und hinterließ keinerlei Spuren“, sagt De Iesu. Was die Ermittler aber finden, ist ein Zugticket, das der 24-Jährige mit sich führte. Danach ist er aus der französischen Stadt Chambéry in den Savoyer Alpen am Donnerstag über Turin bis Mailand gereist. In Turin soll sich Amri drei Stunden aufgehalten haben. Nach Angaben des Polizeichefs kam er gegen 1 Uhr nachts am Mailänder Hauptbahnhof vorbei.
Am Freitagmorgen sind von der Schießerei noch Spuren am Bahnhofsplatz von Sesto San Giovanni zu sehen. Eine zusammengeknüllte Wärmedecke, Blutflecken, mit Kreide aufgezeichnete Kreise, Gummihandschuhe der zu Hilfe gerufenen Sanitäter, gelbe Schildchen mit Nummern, die die Position der Patronenhülsen markieren. Fotos aus der Nacht zeigen einen leblosen Körper unter der Wärmedecke, es ist der Körper des mutmaßlichen Attentäters von Berlin. Der verletzte Polizist wird ins Krankenhaus von Monza transportiert und an der Schulter operiert. Er schwebt nicht in Lebensgefahr. Auf Fotos posiert er gut gelaunt mit Kollegen, die ihn im Krankenhaus besuchen.
Nachdem der Tod von Anis Amri festgestellt ist, werden seine Fingerabdrücke genommen. Über Lampedusa gelangte der Tunesier 2011 nach Europa. Amri ist den italienischen Behörden bekannt, unter anderem wegen Brandstiftung und Körperverletzung saß er vier Jahre auf Sizilien in Haft. Am Morgen, wenige Stunden später, steht fest: Der Mann ist der mutmaßliche Attentäter von Berlin, Anis Amri. Die italienischen Behörden informieren ihre Kollegen in Deutschland. Der italienische Ministerpräsident Paolo Gentiloni überbringt Bundeskanzlerin Angela Merkel per Telefon die Nachricht. In Rom, wo es politisch und wirtschaftlich gerade eher chaotisch zugeht, herrscht Stolz. Innenminister Minniti erklärt seine „absolute Zufriedenheit“. In Berlin ist man erleichtert.
Doch natürlich bleiben Fragen. Wie etwa konnte es sein, dass sich der mutmaßliche Attentäter vier Tage lang trotz einer länderübergreifenden Großfahndung frei durch halb Europa bewegen konnte? Ob Amri alleine reiste, andere Personen in Deutschland, Frankreich oder Italien kontaktierte und was er in Sesto San Giovanni vorhatte, das wissen die Ermittler zunächst nicht. Ein Rätsel ist zum Beispiel auch die Tatsache, dass der Lkw, den Amri offenbar für sein Attentat auf dem Berliner Weihnachtsmarkt benutzte, seine Fahrt ursprünglich in Italien begonnen hatte.
In Cinisello Balsamo, nur ein paar Kilometer von Sesto San Giovanni entfernt. Ein Zufall? All das sei Gegenstand von Ermittlungen, sagt Polizeichef Antonio De Iesu am Freitag. Weder in Italien noch in Berlin sind die Ermittlungen im Fall Amri abgeschlossen.
Am Freitagvormittag war die Erleichterung im Regierungsviertel im Berliner Spreebogen wie im Roten Rathaus, dem Sitz des Regierenden Bürgermeisters, groß. Bundeskanzlerin Angela Merkel, Innenminister Thomas de Maiziere (beide CDU) und Justizminister Heiko Maas (SPD) dankten den italienischen Behörden für ihre Arbeit und die Zusammenarbeit, kündigten gleichzeitig aber auch an, Konsequenzen aus der Tat zu ziehen. So forderte Merkel eine umfassende Analyse des Terroranschlags und forderte den Innen- und Justizminister auf, „baldmöglichst“ Ergebnisse vorzulegen, die Regierung werde notwendige Maßnahmen „zügig verabreden und umsetzen“.
Merkel betonte, bei aller momentanen Erleichterung bestehe die Gefahr des Terrorismus „wie seit vielen Jahren weiter“. Für sie selbst wie für die gesamte Bundesregierung sei es oberste Pflicht des Staates, die Bürger zu schützen. Merkel fügte hinzu: „Unsere Demokratie, unser Rechtsstaat, unsere Werte, unsere Mitmenschlichkeit – sie sind der Gegenentwurf zur hasserfüllten Welt des Terrorismus. Und sie werden stärker sein als der Terrorismus.“ Zudem verlangte sie mehr und schnellere Abschiebungen nach Tunesien. Dies sagte sie auch in einem Telefonat mit dem tunesischen Präsidenten Beji Caid Essebsi am Freitagnachmittag.
„Ich bin sehr erleichtert, dass von diesem Attentäter keine Gefahr mehr ausgeht“, sagte de Maiziere in einem kurzen Statement. Ein Team des Bundeskriminalamtes sei auf dem Weg nach Mailand, um sich dort an den Ermittlungsarbeiten zu beteiligen. Gleichwohl warnte er: „Mit dem Fahndungserfolg hat sich die terroristische Bedrohungslage nicht geändert.
“ Er und sein SPD-Kollege Maas kündigten an, bereits im Januar die Frage zu klären, wie Ausreisepflichtige so schnell wie möglich abgeschoben werden können und wie Gefährder noch besser überwacht werden können. Deutsche Sicherheitsbehörden hatten den Tunesier als Gefährder im Blick. De Maiziere verwies auf seinen „längst“ vorliegenden Gesetzentwurf zur Abschiebehaft bei ausreisepflichtigen Gefährdern und zur Ausgestaltung der Duldung. „Darüber hinaus werde ich mir vorbehalten, weitere Vorschläge zu unterbreiten, um Deutschland noch sicherer zu machen.“
Die Berliner Polizei schickte derweil auf dem Kurznachrichtendienst Twitter einen besonderen Gruß an ihre Kollegen in Mailand: „Grazie e pronta guarigione ai colleghi feriti“ – „Danke und gute Besserung dem verletzten Kollegen“. Der Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP), Oliver Malchow, reagierte ebenfalls mit Erleichterung. Der Albtraum eines bewaffneten, frei herumlaufenden Terroristen habe ein Ende gefunden, sagte er in Berlin.
„Wir sind froh darüber, dass die italienischen Kollegen bei dem Zwischenfall in Mailand so professionell reagiert haben.“ Entwarnung für Deutschland könne jedoch noch nicht gegeben werden. So müsse geklärt werden, „ob und wo der getötete Anis Amri Hintermänner oder Unterstützer gehabt hatte“.
Genau dies bekräftigte auch Generalbundesanwalt Peter Frank in Karlsruhe: „Für uns gehen die Ermittlungen jetzt mit hoher Intensität weiter.“ Es müsse geklärt werden, wie Amri von Berlin nach Mailand gekommen sei, ob es in Deutschland Helfer und ein Unterstützernetzwerk gab, das ihn mit Geld versorgte und bei der Flucht half. Außerdem muss noch festgestellt werden, ob es sich bei der Waffe, mit der er einen Polizisten in Mailand angeschossen hatte, um die gleiche Waffe handle, mit der im Fahrerhaus des Tatfahrzeugs der polnische Fahrer erschossen wurde. „Wenn es weitere Mittäter gegeben hat, müssen wir diese in unsere strafrechtlichen Ermittlungen einbeziehen.“
Das IS-Sprachrohr Amak veröffentlichte am Freitag ein Video, auf dem der mutmaßliche Berlin-Attentäter zu sehen sein soll. In der knapp dreiminütigen Aufnahme schwört Amri dem Anführer der Terrormiliz Islamischer Staat (IS), Abu Bakr al-Baghdadi, die Treue. Die Echtheit des Videos, das in Berlin aufgenommen worden sein könnte, konnte zunächst nicht unabhängig bestätigt werden.