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Auf freiem Fuß, aber nicht frei
Menschenrechte: Gut drei Wochen nach ihrer Haftentlassung versucht Mesale Tolu, ein normales Leben zu führen. Sie verbringt viel Zeit mit ihrem Mann und ihrem Sohn, die ebenfalls im Gefängnis waren.
Susanne Güsten       -  Susanne Güsten war Korrespondentin in der Türkei.
Susanne Güsten
 |  aktualisiert: 11.12.2019 18:36 Uhr

Der kleine Serkan wimmert im Halbschlaf und umklammert die Hand seiner Mutter, die ihren Arm deshalb nicht aus dem Kinderwagen ziehen kann. „Anders kann er nicht schlafen“, sagt Mesale Tolu entschuldigend. „Er hat immer noch Angst, dass wir wieder verschwinden.“ Ihr Ehemann Suat schaukelt den Kinderwagen etwas, damit der Dreijährige sich beruhigt. Keinen Augenblick lassen die Eltern ihn mehr alleine, seit sie aus dem Gefängnis entlassen wurden – Suat vor sechs Wochen und Mesale vor dreieinhalb Wochen. Nur zu dritt gehen sie aus dem Haus, damit der Kleine sicher sein kann, dass Mama und Papa beide da sind. „Wir müssen unsere Familie jetzt erst Mal wieder aufbauen“, sagt Mesale, die acht Monate im Gefängnis gesessen hat und neun Monate lang durch Gefängnismauern von ihrem Mann getrennt war.

Vorläufig hat sich die Familie Tolu deshalb wieder in der Wohnung im asiatischen Stadtteil Kartal von Istanbul niedergelassen, wo Mesale Tolu bei ihrer Verhaftung am 30. April vergangenen Jahres der damals zweieinhalbjährige Serkan aus den Armen gerissen wurde. Viele Ausflüge unternehmen sie von dort mit Serkan: auf den Spielplatz, auf die Prinzeninseln. Zum Fahrradfahren und selbst zum Ponyreiten waren sie mit dem Jungen neulich. „Wir dürfen ihn natürlich auch nicht verwöhnen“, sagt Mesale Tolu und lacht. Aber der Nachholbedarf ist groß. „Wir brauchen die Zeit, um uns wiederzufinden.“

Viel mehr können die Tolus derzeit ohnehin nicht machen. Arbeiten können sie nicht, weil der Sohn sie nicht aus den Augen lassen will. Und nach Deutschland zurück können sie nicht, weil beide Ausreiseverbot haben, solange ihre Gerichtsverfahren andauern. „Ich bin auf freiem Fuß, aber frei bin ich noch nicht“, sagt Mesale. Ihre Wohnung in Neu-Ulm bleibt deshalb weiter leer. Der Kindergartenplatz für Serkan bleibt reserviert, aber vorläufig unbesetzt. Im März hat Suat den nächsten Gerichtstermin, am 26. April steht Mesale wieder vor Gericht. Beide hoffen, dass die Ausreisesperre dann aufgehoben wird, wie es in vergleichbaren Fällen für andere Angeklagte der Fall war, aber sicher ist in diesen Tagen nichts.

Fest steht für Mesale Tolu aber, wo ihre Heimat ist und wo sie leben will, sobald das Ausreiseverbot aufgehoben wird. Einen Herzenswunsch hat ihr schon ein Freund erfüllt, der neulich aus Deutschland zu Besuch kam und frische Brezen mitbrachte. Aber inzwischen ist sie schon ein Jahr fort aus ihrer Geburtsstadt, und sie hat Heimweh nach Ulm. „Dieser Alltag in Deutschland: kurz zum Bäcker und dann Kaffee zur Brezel – oder nachmittags Kaffee und Kuchen“, schwärmt sie. „Und diese Ruhe in Ulm, die Herzlichkeit – das fehlt mir sehr.“

Mehr denn je zuvor fühlt sich Mesale Tolu als Ulmerin, seit sie die Welle von Solidarität erlebt hat, die aus ihrer Heimatstadt bis in die türkische Gefängniszelle rollte und sie durch die schweren Tage der Haft getragen hat. Anfangs wusste sie nicht einmal davon, bis das deutsche Konsulat sich nach einigen Wochen den Zugang zu ihr verschaffen konnte und den Kontakt herstellte.

Wöchentlich brachten ihr die Konsularbeamten fortan Berichte von den Solidaritätsaktionen in Ulm ins Gefängnis, auch Post erhielt sie dann: Briefe von ihren früheren Lehrern und Mitschülern, von Freunden und von deren Eltern und sogar Postkarten von unbekannten Mitbürgern.

Tief bewegt haben sie diese Briefe, Postkarten und Aktionen, sagt Mesale Tolu. „Wenn man in der Fremde eingesperrt ist, in einem anderen Land, dann tut es gut zu wissen, dass die eigene Stadt einen so ins Herz geschlossen hat.“ Besonders stolz habe es sie gemacht, dass das Anna-Essinger-Gymnasium sie als würdige Absolventin des Wertekanons gewürdigt habe, der dort in Erinnerung an die Reformpädagogin gelehrt wird, die jüdische Kinder gegen das Dritte Reich verteidigte.

Die Türkei habe wohl nicht damit gerechnet, dass Deutschland so stark für seine Bürger mit Migrationshintergrund eintreten werde, meint Mesale Tolu – und in der Tat habe sich da vielleicht etwas verändert in jüngster Zeit, was auch ihr Mut mache. „Dass eine kleine Stadt wie Ulm aufgestanden ist und sich hinter mich gestellt hat, das zeigt, dass sich da etwas geändert hat.

“ Dass die deutsche Gesellschaft sich nicht nur mit dem Menschenrechtler Peter Steudtner solidarisiert habe, als der in der Türkei eingesperrt wurde, sondern auch mit dem deutsch-türkischen Journalisten Deniz Yücel und ihr selbst, „das bestätigt uns auch“ in der Identität als Deutsche, sagt Tolu. „Wenn man sich so von der Heimat ins Herz geschlossen fühlt, dann weiß man: Ich sehe nicht nur Deutschland als meine Heimat, sondern Deutschland nimmt mich auch an.“

Ungeduldig wartet sie nun auf die Ausreiseerlaubnis, damit Serkan nicht noch mehr Zeit verliert und möglichst bald in Ulm in den Kindergarten gehen kann. Denn eines steht für sie felsenfest: „Ich will, dass mein Sohn in Deutschland aufwächst und seine Bildung dort erfährt.“

Mesale selbst hat in Ulm das Abitur gemacht und dann in Frankfurt Spanisch und Philosophie studiert, um Lehrerin zu werden – dann aber vor allem Gefallen an den Sprachen gefunden. Türkisch radebrechte sie als Kind zwar nur, weil sie auf Deutsch erzogen wurde, polierte es aber schon vor dem Abitur im Selbststudium so gut auf, dass sie – anders als viele Deutsch-Türken – in der Türkei nicht damit auffällt.

Englisch beherrschte sie schon in der Schule gut, Spanisch kam im Studium dazu, und so verfiel sie darauf, als Übersetzerin zu arbeiten.

Eine Gelegenheit ergab sich nach der Heirat in Frankfurt, als ihr Ehemann sich 2014 für ein Jahr freiwillig zum Wahlkampf der Kurdenpartei HDP in der Türkei meldete. Es waren hoffnungsvolle Tage in der Türkei: Die Regierung verhandelte damals mit den Kurden über einen dauerhaften Frieden, und die HDP setzte zum Einzug ins Parlament und vielleicht sogar zur Koalition mit der Regierungspartei AKP an. Mesale Tolu fühlte sich auch angesprochen, schließlich ist sie selbst kurdischer Abstammung: Ihre kurdischen Großeltern emigrierten aus dem osttürkischen Maras nach Ulm, und auch ihre Eltern sprachen Kurdisch noch als Muttersprache. „Wenn die Familie seit Jahrzehnten diese Unterdrückung erlebt hat, dann ist einem das schon bewusst, auch wenn man in Deutschland aufwächst“, sagt Mesale Tolu. „Und Diskriminierung als Türkin erfährt man als Kurdin auch in Deutschland.“

Tolu war damals schwanger, pendelte zwischen ihrer Familie in Ulm und ihrem Mann in Istanbul und begann, bei ihren Besuchen in der Türkei für die linke Nachrichtenagentur ETHA zunächst Artikel aus der Weltpresse zu übersetzen und dann auch eigene Interviews zu führen. Die HDP zog 2015 tatsächlich triumphal ins Parlament ein, doch danach ging es schnell bergab. Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan ließ die Wahl annullieren, die politische Gewalt eskalierte.

Mesale Tolu sah es zwar geschehen, fühlte sich aber nicht gefährdet. „Ich hätte mir nie im Leben gedacht, dass ich mal inhaftiert werden kann“, erzählt sie. „Weil ich anders aufgewachsen bin; in einem Land, wo freie Meinungsäußerung der höchste Wert ist – und dann war ich in einem Land, wo das auf einmal zum Verbrechen wurde.“ Das habe sie natürlich schockiert. Zerbrochen sei sie aber nicht daran, fügt sie stolz hinzu.

Nun richtet sich ihr Blick nach vorne, auf den nächsten Gerichtstermin und auf den Freispruch, für den sie weiter kämpfen will. „Wenn ich dann zurück bin in Ulm, dann will ich sofort in die Innenstadt und einfach nur dort herumlaufen“, sagt sie. „Und an der Donau spazieren gehen.“

Eine Bitte hat sie vorher noch an ihre Landsleute: „Bitte weiterhin nicht wegsehen, sondern hinschauen“, sagt sie mit Blick auf die vielen türkischen Journalisten, die weiterhin hinter Gittern sitzen – weit über 100 an der Zahl. Viele Menschen in Deutschland hätten ihretwegen vielleicht erstmals eine Postkarte in ein türkisches Gefängnis geschickt und ihr damit viel Mut gemacht, sagt Mesale Tolu. „Ich wünsche mir, das würde man weiterführen.“

Hoffnung auch für Deniz Yücel

Das türkische Verfassungsgericht hat die Entlassung aus der Untersuchungshaft von zwei oppositionellen Journalisten angeordnet. Das Gericht in Ankara sah die Rechte von Sahin Alpay und Mehmet Altan verletzt und verfügte ihre Freilassung, wie die Zeitung „Cumhuriyet“ am Donnerstag berichtete.

Den beiden wird in unterschiedlichen Verfahren Mitgliedschaft in einer Terrororganisation vorgeworfen. Alpay und Altan sitzen seit mehr als einem Jahr in Untersuchungshaft. Die beiden hatten individuelle Beschwerde beim Verfassungsgericht eingelegt. Sie beklagten etwa, dass gegen ihr Recht auf Freiheit und Sicherheit, Meinungs- und Pressefreiheit verstoßen wurde. Das Verfassungsgericht gab ihnen recht.

Im Fall von Deniz Yücel, der seit fast elf Monaten ohne Anklage in Haft sitzt, hat sich der Chefredakteur der Zeitung „Die Welt“ vorsichtig optimistisch über eine Freilassung geäußert. „Nach Monaten, in denen wir das Gefühl hatten, dass von türkischer Seite die maximale Härte im Umgang mit unserem Kollegen so im Fokus stand, haben wir seit ein paar Wochen das Gefühl, dass sich die türkische Regierung bewegt“, sagte Ulf Poschardt dem Radioprogramm „SWR Aktuell“. Es gebe Signale der Entspannung: „Deniz sitzt nicht mehr in Einzelhaft. Das ist schon mal sehr gut. Natürlich freuen wir uns auch, wenn (der türkische Präsident Recep Tayyip) Erdogan sagt, dass er sich die Deutschen wieder als Freund wünscht.“ dpa

 
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