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WÜRZBURG/LÜNEBURG
Auf der Spur der letzten NS-Täter
Vor Gericht: Oskar Gröning, früher SS-Mann, steht in Lüneburg 70 Jahre nach dem Ende der Nazi-Diktatur vor Gericht.
Foto: J. Stratenschulte, dpa | Vor Gericht: Oskar Gröning, früher SS-Mann, steht in Lüneburg 70 Jahre nach dem Ende der Nazi-Diktatur vor Gericht.
Angelika Becker
Angelika Becker-Völker
 |  aktualisiert: 13.01.2016 11:07 Uhr

Außergewöhnlich sei die Reue eines Beschuldigten in einem NS-Kriegsverbrecherprozess, wie sie am Dienstag der wegen Beihilfe zum 300.000-fachen Mord angeklagte Oskar Gröning vor dem Landgericht Lüneburg zeigte. Das sagt Thomas Will. Er ist stellvertretender Leiter der Zentralen Ermittlungsstelle für nationalsozialistische Verbrechen in Ludwigsburg (Baden-Württemberg). Sie hatte Oskar Gröning ausfindig gemacht und seine Akten an die zuständige Staatsanwaltschaft weiter geleitet. Ende 2013 hatte die Ludwigsburger Behörde insgesamt 30 Verfahren an Justizbehörden in ganz Deutschland übergeben, darunter auch drei an fränkische Staatsanwaltschaften.

Im Gespräch mit dieser Zeitung zum Abschluss der Vorermittlungen sagte der Leiter der Zentralstelle, Kurt Schrimm, über die Täter, die er bei seinen Ermittlungen in aller Welt traf: „Ich habe niemanden erlebt, der etwas bereute.“ Allenfalls hörte er ein Bedauern in der dritten Person, mit dem sich Täter gleichzeitig von ihren Taten distanzierten wie „das hätte man nicht tun dürfen“.

Ganz anders klingt das nun bei Gröning. Der frühere SS-Mann sagte vor Gericht, er habe sich moralisch mitschuldig gemacht. 1942 als Buchhalter im Konzentrationslager Auschwitz habe er die Vergasung von Juden erlebt. Der heute 93-Jährige bat um Vergebung „in Reue und Demut vor den Opfern“. Die Frage strafrechtlicher Schuld verwies er an die Richter.

Der Grund, weshalb die Ludwigsburger Zentralstelle erst 2013, fast 70 Jahre nach dem Ende der Naziherrschaft, die Akten greiser Frauen und Männer an die Staatsanwaltschaften sandte, war eine neue Sicht der Rechtslage. Bis zum Prozess gegen den KZ-Wärter John Demjanjuk 2011 hatte sich die Justiz an der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs orientiert, wonach die bloße Tätigkeit als KZ-Aufseher nicht zu bestrafen ist. In jedem Fall musste der individuelle Tatbeitrag nachgewiesen werden. Für das Münchner Landgericht reichte im Fall Demjanjuk die Tätigkeit im Vernichtungslager für die Verurteilung wegen Beihilfe zum Mord. Daraufhin arbeitete die Ludwigsburger Behörde eine Liste aus den 1970er Jahren mit den Namen von vielen Tausend Aufsehern aus Auschwitz-Birkenau durch.

Wenige werden wohl noch vor Gericht kommen. Viele leben im Ausland, etliche starben während der Vorermittlungen. Sieben Fälle schickten die Ludwigsburger nach Bayern. Zwei der fränkischen Fälle, nämlich die der Würzburger Staatsanwaltschaft, sind seit 28. April 2014 von der Liste in der Zentralstelle gestrichen. Die Verfahren gegen die beiden über 90-jährigen Männer aus dem Aschaffenburger und dem Coburger Raum wurden wegen dauerhafter Verhandlungsunfähigkeit der Beschuldigten eingestellt, so der Pressesprecher der Würzburger Staatsanwaltschaft, Boris Raufeisen.

Der dritte Fall betrifft einen 92-Jährigen aus dem Raum Neustadt an der Aisch/Bad Windsheim. Die Staatsanwaltschaft Fürth-Nürnberg ermittelt wegen seiner Beteiligung an Verbrechen als Wachmann in Auschwitz-Birkenau und in Majdanek, sagt Pressesprecherin Antje Gabriels-Gorsolke. Zu seiner Beteiligung an Morden in Auschwitz-Birkenau wurde er angehört und gab an, erst in das Vernichtungslager gekommen zu sein, als es dort keine Tötungen mehr gegeben habe. Zu Majdanek könne ihn die Staatsanwaltschaft im Moment nicht befragen. Der Verteidiger habe mitgeteilt, sein Mandant sei nicht verhandlungsfähig. „Das überprüft nun ein Sachverständiger“, so die Pressesprecherin.

Sollte Gröning in Lüneburg verurteilt werden, erwartet ihn eine Haftstrafe von mindestens drei Jahren. Rund 60 Nebenkläger verfolgen den Prozess.
Mit Infos von dpa und afp

 
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