Der Film dauert nur zehn Minuten. Szenen aus der indischen Großstadt Kalkutta. Aus den Armutsvierteln und Slums. Tausende von Kindern und Jugendlichen arbeiten hier als Müllsammler, um sich und ihre Familie zu ernähren. Sieben Tage die Woche, viele Stunden am Tag.
Mohammed Alamgir verfolgt den Film aufmerksam. Er spricht kein Deutsch, er versteht die Worte des Kommentators nicht. Trotzdem weiß er genau, worum es geht. Denn der Inder sieht solche Bilder jeden Tag und aus nächster Nähe – und versucht, etwas daran zu ändern. 1995 gründete er die Nichtregierungsorganisation „Tiljala Shed“. Gemeinsam mit Ärzten, Sozialarbeitern und Lehrern versucht Alamgir die Situation der Müllsammler zu verbessern. Inzwischen erhält er dabei Unterstützung aus Deutschland: Das katholische Hilfswerk Misereor fördert „Tiljala Shed“, und in diesem Jahr steht das Projekt im Mittelpunkt der traditionellen Fastenaktion.
Auf Einladung von Misereor reist Mohammed Alamgir zurzeit durch Deutschland, um von seinen Erfahrungen, Schwierigkeiten, Erfolgen zu berichten. Auch in Würzburg ist er für ein paar Tage zu Gast. Auf dem Besuchsprogramm stehen unter anderem die Katholische Hochschulgemeinde, das Sankt-Ursula-Gymnasium und die Pfarreien Werneck und Mellrichstadt. „Es ist wichtig, dass die Leute Informationen aus erster Hand bekommen“, sagt Alamgir. „Das ist für mich Arbeit im Sinne der Solidarität.“ Er freut sich über die große moralische Unterstützung, die er hier erfährt: „Das hilft mir dabei, weiterzumachen und durchzuhalten.“
Dabei mangelt es dem 57-Jährigen offenbar nicht an Motivation. In einem Armutsviertel von Kalkutta geboren, lebte Alamgir bis er 35 Jahre alt war selbst in einer der Slumhütten – so wie 60 Prozent der 15 Millionen Einwohner. „Es ist ein Segen Gottes, dass ich dem Teufelskreis der Armut entkommen konnte“, sagt er heute. Nur mit viel Hilfe von Freunden und Familie habe er einen Schulabschluss und einen Bachelor of Laws machen können. Heute ist er Lehrer an einer Grundschule und setzt sich unermüdlich für die Interessen der oft minderjährigen Müllsammler ein.
„Sie streifen tagtäglich durch die Stadt und suchen auf Müllkippen, Straßen, in Betrieben nach verwertbarem Müll, den sie an Zwischenhändler weiterverkaufen können“, erzählt Alamgir. „Mülltrennung ist in Kalkutta bislang ein Fremdwort.“ Ohne die Sammler würde der Müll der Stadt nicht beseitigt, aufbereitet und wiederverwertet. Die Arbeitsbedingungen sind denkbar schlecht: „Die Kinder sind gesundheitsschädlichen Stoffen ausgesetzt, Schuhe oder Handschuhe besitzen sie nicht.“
Bei seiner Arbeit setzt er vor allem auf die Solidarität und die Einheit der Zivilgesellschaft. Von staatlichen Institutionen und Politikern erwartet er inzwischen nicht mehr viel. „Im Grunde sind sie unsere Feinde, weil sie die Menschen kontrollieren und ausbeuten wollen.“ Im Gegensatz zu ihnen wolle er keinen Kompromiss machen, wenn es um Menschenrechte geht. „Trotzdem brauchen wir sie, weil sie die Macht haben.“
Aus diesem Grund ist „Tiljala Shed“ nicht nur in den Straßen, sondern auch in den Büros von Kalkutta aktiv. Die Organisation betreibt Lobbyarbeit auf lokaler und nationaler Ebene, um den Müllsammlern langfristig einen gleichberechtigten Zugang zum Sozialprogramm und zu Regierungsdienstleistungen zu verschaffen. „Viele von ihnen haben keine Papiere, existieren also offiziell gar nicht.“ Alamgirs wichtigstes Ziel ist es, die Müllsammler gemeinschaftlich zu organisieren. Sie sollen ein offizieller Teil der Abfallwirtschaft werden – anerkannt und gerecht bezahlt. Die Müllsammler-Vereinigung, die 1999 mit Hilfe von „Tiljala Shed“ gegründet wurde, ist in zwei Stadtteilen aktiv und hat 500 Mitglieder.
Gleichzeitig bietet die Organisation vielen Kindern die Möglichkeit, eine Schule zu besuchen. „Bildung ist der Schlüssel, damit die Menschen selbst fundierte Entscheidungen treffen können“, sagt Alamgir. „In den vergangenen zehn Jahren konnten wir 5000 Kinder von der Müllsammelarbeit abziehen und einschulen.“ Frauen können bei „Tiljala Shed“ an berufsbildenden Maßnahmen teilnehmen, um sich eine sichere Einkommensquelle aufzubauen. Dazu hat die Organisation ein eigenes Gesundheitsprogramm auf die Beine gestellt, das den armen Familien einen Zugang zu medizinischer Versorgung ermöglicht.
Die Misereor-Fastenaktion
„Menschenwürdig leben. Kindern Zukunft geben!“ ist das Motto der diesjährigen Fastenaktion von Misereor. Alle katholischen Gemeinden beteiligen sich während der Fastenzeit an der Kampagne. Höhepunkt ist der fünfte Fastensonntag am 25. März. In allen Sonntagsgottesdiensten werden dann Spenden für das Hilfswerk gesammelt. 2010 nahm Misereor 17,5 Millionen Euro bei der Sammlung ein. Die Diözese Würzburg sammelte dabei knapp 607 000 Euro.
Das Projekt „Tiljala Shed“ (Tiljala Society for Human and Educational Development) ist ein Beispielprojekt der diesjährigen Fastenaktion.