Es war das Lieblingskind vieler Europäer Anfang des Jahres 2011: der „Arabische Frühling“. Die Aufstände, für die man Begriffe wie „Facebook-Revolution“, „Aufstand der Jugend“ oder „Jasmin-Revolution“ fand, als die Opposition in verschiedensten arabischen Ländern Diktatoren vertrieb oder Reformen erreichte mit Forderungen nach Demokratie, Freiheit und Toleranz
Dass westliche Regierungen Ben Ali, Mubarak und Co. noch bis kurz zuvor unterstützt hatten, blieb eine ironische Randnotiz.
Nun ist all das ein Jahr her. Syrien ist wegen des aktuellen Konflikts präsent, die anderen Länder weniger. Dabei sind momentan viele Dinge im Wandel. In Tunesien und Ägypten hat es Ende des vergangenen Jahres die ersten weitgehend freien Parlamentswahlen gegeben, auch im Jemen wurde gewählt. In Tunesien errang die gemäßigt islamistische Ennahda-Partei 90 von 217 Sitzen, in Ägypten siegten die Muslimbrüder und die konservativen Salafisten. Viele sahen darin aufkeimenden Radikalismus. Vom Arabischen Frühling zum Islamischen Winter?
Die westliche Idee, islamische Parteien mit Radikalismus und Diktatur zu verknüpfen, sei plakativ, sagt Timothy Garton Ash, Professor für Europäische Studien in Oxford, im „Spiegel“: „Die Menschen, die wir in den Einheitstopf der Islamisten werfen, haben verschiedene Formen und Größen: Einige setzen vorrangig auf freie Marktwirtschaft, andere auf Wohlfahrt, wieder andere auf kulturellen und religiösen Konservatismus. In den Ländern des Arabischen Frühlings kommt es entscheidend darauf an, welche Sorte Islamisten die Oberhand gewinnt.“
Der Würzburger Geograph und Arabienkenner Konrad Schliephake hält eine Radikalisierung nicht für wahrscheinlich: „Die extremen Fundamentalisten werden sich nicht durchsetzen. Dafür sind die Gesellschaften schon zu weit entwickelt.“ Der Vorsitzende der tunesischen Ennahda-Partei, Rashid al-Ghannouchi, sprach sich nach der Wahl für eine moderat islamische Politik im Stil der Türkei aus. „Es wird darauf ankommen, ob man den türkischen oder den saudischen Weg wählt“, so der Islamwissenschaftler Michael Lüders im „Tagesspiegel“.
Doch die Frage, die sich daran anschließt, ist eine grundsätzlichere: Warum spielt Religion plötzlich so eine große Rolle? Auf den Bildern des letzten Jahres dominierten die säkularen Studenten, demonstrierende Frauen ohne Kopftuch, westlich orientierte Blogger. Nun aber sind in allen Ländern islamische Parteien hoch bedeutend geworden. Aus europäischer Sicht eine plötzliche Wendung. Für manche Experten nicht ganz überraschend.
„Diese Gruppen waren immer da“, erklärt Schliephake. „Sie waren immer aktiv, auch, wenn man sich damit im Westen nicht gern auseinandersetzen wollte.“ In vielen Ländern bildeten islamisch orientierte Gruppen über Jahre die einzige Opposition. Und nachdem sie den Beginn der Revolution verschlafen hatten, waren sie anschließend, in den Wirren des Umsturzes, während Dutzende neuer Parteien aus dem Boden schossen, ein vertrautes Element bei der Bevölkerung.
Aus dieser Tradition erklärt sich auch der Vertrauensvorschuss, der ihrem Erfolg zugrunde liegt. Denn bei den islamistischen Gruppierungen hat die Bevölkerung – im Gegensatz zu vielen anderen Parteien – Gewissheit, dass bei ihnen keine Schergen des alten Regimes weitermachen. Zudem setzt sich die Bevölkerung nur zu sehr kleinen Teilen aus den gern abgebildeten, säkularen Studenten zusammen. Für die wenig Gebildeten steht der Islam im Zentrum. Und auch von den Studenten haben viele die islamischen Parteien gewählt. Warum?
Nach einem revolutionären Umbruch, glaubt Schliephake, befindet man sich auf der Suche nach einer eigenen Identität, nach Werten. „Diese Werte kann ihnen die westliche Gesellschaft gar nicht bieten. Früher hat der Diktator die Werte vorgegeben. Wenn die Diktatoren weg sind, fragt man sich: Wo sind die Werte?“ Schliephake sieht Parallelen zu Deutschland nach 1945. „Auch da waren christliche Werte entscheidend und wurden im Grundgesetz verankert. Das kann durchaus sinnstiftend sein.“
Bedingt auch dadurch, dass sich die Bevölkerung von außen unter Druck gesetzt fühlt. „So lange der Nahost-Konflikt nicht gelöst ist“, sagt Schliephake, „werden sich die USA dort niemanden zum Freund machen.“ Laut einer Umfrage von Zogby International sehen 61 Prozent der Ägypter die „US-amerikanische Einmischung in die arabische Welt“ als größtes Hindernis für die Demokratie. Zwei Drittel der Befragten befürchten, dass sich die USA in die ägyptische Politik einmischen werden. Denn es ist kein Geheimnis, dass islamisch orientierte Strömungen in vielen arabischen Staaten lange mit Gewalt unterdrückt wurden. Bei den Wahlen in Algerien 1991 etwa stand die islamistische Partei kurz vor dem Wahlsieg, bevor das Militär, von den USA unterstützt, eingriff, was zu einem jahrelangen, blutigen Bürgerkrieg führte.
Solche Ereignisse sind nicht vergessen. Die Wahl islamischer Parteien ist wohl auch Ergebnis dieser Politik. Und eine Suche nach arabischer Identität. Wie sich die Suche entwickeln wird, ist unklar. Gefahren gibt es reichlich: Alte Eliten, aufgerüstete Bevölkerungsteile, wirtschaftliche Probleme. Was auch immer geschieht, sicher ist nur eines: Die wahre arabische Revolution hat gerade erst begonnen.