Einen trifft es immer – und nicht zum ersten Mal ist es Olaf Scholz. Vor zehn Jahren, beim Parteitag in Bochum, strafte die SPD ihren damaligen Generalsekretär aus Verdruss über die Sozialreformen der Agenda 2010 mit einem Wahlergebnis von 52,6 Prozent regelrecht ab.
Inzwischen ist Scholz zwar zum Hamburger Bürgermeister aufgestiegen, aber noch immer der Watschenmann der SPD. Mit 67,3 Prozent erhält der 55-Jährige, einer der entschiedensten Befürworter der Großen Koalition, in Leipzig bei der Wahl der fünf stellvertretenden Parteivorsitzenden das mit Abstand schlechteste Ergebnis. Noch schlechter schneidet nur Generalsekretärin Andrea Nahles ab, die auf dem Podium direkt neben ihm sitzt und sich gerade eine Träne aus dem Auge wischt. Mit mageren 67,2 Prozent ist sie die Watschenfrau der Sozialdemokraten.
Denkzettel für den Vorstand
„So hättet Ihr mit Andrea nicht umgehen sollen.“ Schatzmeisterin Barbara Hendricks ist die erste Rednerin nach der Wahl der Generalsekretärin. Der spärliche Beifall für ihre spontane Solidaritätsadresse aber zeigt, wie viele Genossen noch mit der gegenwärtigen Situation hadern, wie skeptisch sie verfolgen, was die Parteioberen da gerade mit CDU und CSU aushandeln, wie tief der Frust noch sitzt. Große Koalition? Muss das wirklich sein?
Nach dem kleinen Denkzettel für den Vorsitzenden Sigmar Gabriel tags zuvor erhalten auch die übrigen Mitglieder der engeren Parteiführung durchweg schlechtere Ergebnisse als vor zwei Jahren. Allein der Hesse Torsten Schäfer-Gümbel, der den Platz von Berlins Bürgermeister Klaus Wowereit als stellvertretender Vorsitzender einnimmt, ragt mit seinen knapp 89 Prozent über den Durchschnitt heraus.
Auch bei den Wahlen zum SPD-Vorstand lassen die Delegierten am Nachmittag noch einmal kräftig Dampf ab: Im ersten Wahlgang fallen unter anderem der brandenburgische Ministerpräsident Dietmar Woidke, die Landesvorsitzenden Florian Pronold (Bayern), Heiko Maas (Saarland), Jan Stöß (Berlin), Katrin Budde (Sachsen-Anhalt), Christoph Matschie (Thüringen) und Ralf Stegner (Schleswig-Holstein), Juso-Chef Sascha Vogt sowie die baden-württembergischen Kandidaten Ute Vogt, Peter Friedrich und Hilde Mattheis durch – eine Breitseite der Basis gegen das sozialdemokratische Establishment. Erst als Gabriel noch einmal an den Gemeinschaftsgeist der Delegierten appelliert und den Parteitag für 20 Minuten unterbricht, beruhigt sich die Lage wieder etwas.
Im zweiten Wahlgang setzen sich dann fast alle Etablierten durch, dafür fliegt mit der Ulmer Bundestagsabgeordneten Hilde Mattheis eine der schärfsten Kritikerinnen der Großen Koalition aus dem Vorstand. Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier hatte schon am Morgen seine Mühe, die Partei auf ein Bündnis mit der ungeliebten Union einzuschwören. Fünfmal bereits, sagt er, habe er Koalitionsverhandlungen geführt, einmal in Niedersachsen, viermal im Bund. Einfach, sagt er, sei es noch nie gewesen. „Auch mit den Grünen nicht.“
Rückenwind für Martin Schulz
Verärgerung und Verbitterung über ein Wahlergebnis, warnt Steinmeier, sollten nicht der Maßstab in der SPD sein. In Koalitionsverhandlungen müsse eine Partei auch einmal über ihren Schatten springen: „Wir dürfen nie Angst vor der Verantwortung und nie Angst vor dem eignen Versagen haben.“ Dass die SPD nur eine Koalition eingehen werde, wenn deren Vertrag auch ihre Handschrift trägt, sei auch „auf der anderen Seite“ verstanden worden. Den Warnschuss der Delegierten in Leipzig, sagt Andrea Nahles später, empfinde sie als Ansporn, noch besser zu verhandeln. Die Begeisterung der Delegierten über diese Rede hält sich allerdings in Grenzen, wie am Donnerstag bei Gabriel auch.
In Leipzig fliegen die Herzen einem anderen zu: Mit einer temperamentvollen Rede über den schlechten Zustand der Europäischen Union, den wachsenden Nationalismus in anderen Ländern und Deutschlands Verantwortung für das große gemeinsame Ganze verteidigt Martin Schulz mit fast 98 Prozent der Stimmen seinen Platz als EU-Beauftragter im Parteivorstand. Der Präsident des Europaparlamentes will im nächsten Jahr Nachfolger von Kommissionspräsident Manuel Barroso werden und fährt mit viel Rückenwind zurück nach Brüssel.
Die Stadt Leipzig als „Wiege der Sozialdemokratie“
Nach den Feierlichkeiten zum 150-jährigen Bestehen der Sozialdemokratie hält die SPD auch ihren Parteitag in Leipzig ab. Damit wird die Verbindung zu der Stadt unterstrichen. Am 23. Mai 1863 wurde im Leipziger Pantheon der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein (ADAV) gegründet, es war die offizielle Geburtsstunde der deutschen Sozialdemokratie. Die SPD nennt die Stadt nicht nur deshalb die „Wiege der Sozialdemokratie“ und verweist darauf, dass Wilhelm Liebknecht und der spätere Parteichef August Bebel hier arbeiteten.
Im Mai 1931 kamen 400 Delegierte in Leipzig zum letzten Parteitag vor der Machtübernahme Adolf Hitlers zusammen. Nach dem Mauerfall fand hier im Februar 1990 der erste und zugleich letzte Parteitag der Sozialdemokratischen Partei in der DDR und der westdeutschen SPD statt – wenig später gab es eine gesamtdeutsche SPD. Beim Parteitag 1998 in Leipzig stellte die SPD die Weichen für die Bundestagswahl, die mit dem rot-grünen Sieg endete. Die Gegenwart sieht für die SPD mäßig aus. Hinter der CDU und der Linken ist die SPD nur drittstärkste Kraft im Stadtrat. Sie stellt aber mit Burkhard Jung den Oberbürgermeister. Bei der Landtagswahl in Sachsen 2009 kam die SPD auf 10,4 Prozent.
ONLINE-TIPP
Das muss man über die SPD wissen – Schlaglichter aus der Geschichte der Partei: www.mainpost.de/online-tipp