So lang wie kein anderer, 16 Jahre, war Helmut Kohl (82) Kanzler der Bundesrepublik Deutschland. Wolfgang Bötsch (74) hat all die Jahre in führenden Positionen Regierungspolitik mitverhandelt und -gestaltet. Der Würzburger Bundestagsabgeordnete war ab 1982 Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, ab 1989 dann Vorsitzender der CSU-Landesgruppe – und von 1993 bis 1997 als letzter Postminister Mitglied im Bundeskabinett. Bötsch schied 2005 nach 29 Jahren aus dem Bundestag aus.
Wolfgang Bötsch: Ja. Es war ein Freitag, wir waren mitten im bayerischen Landtagswahlkampf. Ich hatte für den Abend die Teilnahme bei einer Veranstaltung unseres Ortsverbands Ochsenfurt zugesagt. Der Bonner Zeitplan kam schwer ins Rutschen. Wir hatten zunächst in der Fraktion Zählappell, dann folgten Debatte und Abstimmung. Die Vereidigung des neuen Kanzlers war um 17 Uhr. Ein anständiger Abgeordneter bleibt dann da. Anschließend hat mich ein Fraktionsauto nach Ochsenfurt gebracht. Es war spät, aber ich weiß noch, dass ich dort mit großem Beifall empfangen worden bin.
Bötsch: Etwas. Ich wurde im Mai Nachfolger von Paul Röhner, der zum Oberbürgermeister von Bamberg gewählt worden war. Parlamentarischer Geschäftsführer, das ist eine Managementfunktion, da sind Sie zuständig für alles, von der Büroverteilung über die Ausschussbesetzung bis zur Rednerliste in der Debatte. Es lag etwas in der Luft, schon seit Jahresbeginn. Die Arbeitslosigkeit war ziemlich hoch, dann kam das Lambsdorff-Papier. In der SPD rumorte es. Als die Sommerpause anging, hat Fritz Zimmermann, damals Chef der Landesgruppe, gesagt: Fahr nicht so weit weg in Urlaub, möglicherweise müssen wir die Abgeordneten ganz schnell zusammenrufen. In der Sommerpause sind dann einige Gespräche gelaufen, vor allem zwischen Kohl und Genscher. Unmittelbar nach der Sommerpause hat man gemerkt: Jetzt wird's ernst. Dann gab's jede Menge Sitzungen – und schließlich das konstruktive Misstrauensvotum.
Bötsch: Eigentlich nicht. Obwohl wir ein bisschen gebangt haben, nachdem 1972 schon mal ein Misstrauensvotum danebengegangen war. In der FDP waren zwar einige gegen den Koalitionswechsel, so Gerhart Baum und Hildegard Hamm-Brücher. Letztere hat die Entwicklung noch in der Debatte sehr beklagt. Aber die Führung mit Genscher und Lambsdorff hatte ihre Leute doch im Griff, so dass es zur Mehrheit gereicht hat.
Bötsch: Nein, Mitleid ist in der Politik keine Größe, die man sich allzu breit aneignen sollte. Es gab ja neben den wirtschaftlichen Meinungsverschiedenheiten zwischen SPD und FDP auch noch die Debatte um den NATO-Doppelbeschluss. Die SPD hat Schmidt da im Stich gelassen. Auch Hamm-Brücher hat das anerkannt – allerdings erst später.
Bötsch: Strauß hat ambivalent reagiert. Auf der einen Seite war er froh, dass es mit der Regierung Schmidt zu Ende ging, auf der anderen Seite war er sauer, dass ihm als Ministerpräsidenten und erneuten Spitzenkandidaten in Bayern – wir waren mitten im Wahlkampf – die Hände gebunden waren. Die Verhandlungen im Vorfeld liefen zwischen Kohl und Genscher – ohne ihn. In den Tagen danach hat Strauß dann zu uns Abgeordneten gesagt: Es muss jetzt aber mal Schluss sein mit diesem Harmonieterror in Bonn, wir müssen wieder mehr angreifen.
Bötsch: Nein, das war ein Schlagwort, das schnell versandet ist. Inhaltlich war das Wichtigste zunächst neben dem Kampf gegen die Arbeitslosigkeit die Durchsetzung des NATO-Doppelbeschlusses.
Bötsch: Nein, überhaupt nicht. Am 9. November war ich im Rheingau unterwegs. Ich bekam einen Anruf von Kanzleramtsminister Rudolf Seiters: ,Du musst sofort nach Bonn, in Ostberlin ist irgendwas in Bewegung. Wir wissen nicht genau, was.' Also haben wir uns gegen 19 Uhr im Kanzleramt getroffen, rund sieben Leute. Plötzlich kam die Meldung, die Mauer ist offen. Wir sind sofort in den Bundestag, das spontane Singen der Nationalhymne beendete dort die Debatte. Erst am nächsten Tag ist Helmut Kohl von seinem Staatsbesuch in Polen zurückgekommen.
Bötsch: Nein, zunächst nicht. Aber später, als sich nach der Volkskammerwahl die Wiedervereinigung konkret abzeichnete, da komme ich ins Spiel. Johnny Klein, damals Chef des Bundespresseamts, hat in seinen Memoiren geschrieben, ich hätte als Erster den Artikel 23 des Grundgesetzes in die Debatte eingebracht. Ich habe gesagt, der Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes, das ist der Weg. DDR-Ministerpräsident Lothar de Maiziere wollte wenigstens Veränderungen am Staatsnamen, an der Flagge oder der Hymne durchsetzen. Da habe ich nein gesagt, und Parteichef Theo Waigel dann zu mir: Geh zum Kanzler und erklär ihm das, du kennst dich in der Verfassung aus. Da gab es ein Vier-Augen-Gespräch – und wir waren uns einig. Auch eine Volksabstimmung über die Einheit wollten Kohl und ich beide nicht.
Bötsch: Beides. Er hat gesagt, die Wiedervereinigung und die europäische Einigung sind zwei Seiten einer Medaille. Die Wiedervereinigung wurde akzeptiert, weil er aufgrund seines Europakurses Vertrauen genoss.
Bötsch: Einmal, da gab es irgendwas im Kabinett, ich weiß nicht mehr genau was, da hat er gescherzt: Da sollten Sie aber mal gescheit in Würzburg aufs Käppele mit dem Fahrrad fahren. Ich habe gesagt, Herr Bundeskanzler, ich fahr immer am Main entlang nach Ochsenfurt. Ja, das ist ja eben, hat er gekontert. Ich habe ihn korrigiert: Es geht mainaufwärts.
Bötsch: Nein. Meine Tochter war jedoch mal als Jugendliche eine Woche zu Besuch bei mir in Bonn. Da waren wir auch im Bundeskanzleramt. Und Kohl hat sich eine halbe Stunde Zeit genommen, ihr alles zu erklären.
Bötsch: Kohl hat nach gewissen Prinzipien gehandelt. Und so hat er einem Spender das Wort gegeben, dass er den Namen nicht preisgibt. Ich halte das für eine lässliche Sünde. Er hat sich selbst nicht bereichert.
Bötsch: Ja, er hat gegen ein Gesetz verstoßen. Aber ich bin Christ genug, um zu sagen: Wer ohne Schuld ist, werfe den ersten Stein.
Bötsch: Ich habe ihn kurz begrüßt. Seine Frau hat mir dabei gesagt: Wir haben noch eine Figur von Ihnen im Garten. Offenbar hat er ihr mal erzählt, dass wir ihm 1985 bei einer Kundgebung in Würzburg zwei Kopien von Putten aus dem Veitshöchheimer Hofgarten geschenkt haben. Eine davon steht noch in Oggersheim. Das freut mich sehr.
Konstruktives Misstrauensvotum am 1. Oktober 1982
Erstmals und bislang letztmals in der Geschichte der Bundesrepublik vollzog sich ein Regierungswechsel am 1. Oktober 1982 durch ein konstruktives Misstrauensvotum. Die Mehrheit des Bundestags entzog Regierungschef Helmut Schmidt (SPD) das Vertrauen; Helmut Kohl wurde von einer CDU/CSU/FDP-Mehrheit mit 256 von 495 Stimmen zum sechsten deutschen Bundeskanzler gewählt.
Die Wende wurde möglich, weil die FDP nach 13 Jahren in einer sozialliberalen Koalition (bis 1974 unter Kanzler Willy Brandt) die Seiten wechselte. Die Spannungen zwischen den Regierungspartnern wuchsen schon 1981. Es ging um die richtigen Konzepte gegen die aufziehende Weltwirtschaftskrise mit erstmals zwei Millionen Arbeitslosen und dem Ölpreisschock. Die FDP forderte die Kürzung von Sozialleistungen und mehr Marktwirtschaft. Ein Thesenpapier von Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff provozierte den Koalitionspartner.
Aber auch in der SPD selbst kriselte es. Vor allem Schmidts Sicherheitspolitik spaltete die Partei. Der Kanzler bekannte sich zur Stationierung von amerikanischen Mittelstreckenraketen. Der linke SPD-Flügel sympathisierte hingegen mit der Friedensbewegung, die den NATO-Doppelbeschluss konsequent ablehnte.
Am 17. September 1982 traten die vier FDP-Minister der Regierung zurück. Die folgende Entscheidung der FDP-Spitze, mit der CDU/CSU unter Helmut Kohl eine neue Regierung zu bilden, sorgte für Ärger. Aus Protest verließen in den nächsten Wochen über 20 000 Mitglieder die FDP; darunter Bundestagsabgeordnete wie Ingrid Matthäus-Maier und Günter Verheugen, die später in der SPD Karriere machten.
So verlief die mehr als sechsstündige Debatte im Bundestag, die der Abstimmung am 1. Oktober vorausging, überaus emotional. Helmut Schmidt beschuldigte die FDP des Wortbruchs und der Täuschung. „Über viele Jahre, Herr Kollege Genscher, werden die Bürger ihnen dieses Verhalten nicht vergessen“, sagte der Kanzler in Richtung des FDP-Chefs.
Für die CDU/CSU wies Rainer Barzel, der 1972 gegen Willy Brandt noch mit einem Misstrauensvotum gescheitert war, die Vorwürfe zurück. Er nannte die SPD „regierungsunfähig“, sie habe ein blühendes Gemeinwesen in ein „krisengeschütteltes Land“ verwandelt. Micz/Quelle: Bundestag
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