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ALEPPO
Aleppo wird zur Hölle
SYRIA-CONFLICT-ALEPPO       -  Ein Syrer rettet Kinder aus einer Schule. George Ourfalian, afp
Foto: Foto: | Ein Syrer rettet Kinder aus einer Schule. George Ourfalian, afp
Martin Gehlen
 |  aktualisiert: 24.05.2022 09:32 Uhr

Aleppo wird zur Hölle. Rund um die Uhr krachen die Bomben und Raketen. In Todesangst kauern die Menschen in ihren Wohnungen. Kein Winkel in dem von Assad-Truppen eingeschlossenen Ostteil ist mehr sicher, in dem immer noch 250 000 Einwohner ausharren, darunter 100 000 Kinder. Seit dem Wochenende sind nun auch sämtliche Krankenhäuser zerstört. Als letztes traf es das einzige Kinderhospital. „Es ist ein Inferno, sie wollen Aleppo ausradieren“, sagte einer der überlebenden Ärzte. Videobilder eines zufällig anwesenden Al-Jazeera-Reporters zeigen, wie zwei Schwestern in dichtem Explosionsstaub Frühgeborene aus den Inkubatoren bergen und mit den Kleinen im Arm in Tränen ausbrechen.

Verletzte wissen nicht mehr wohin, Operationen sind unmöglich geworden, in dem belagerten Aleppo arbeiten nur noch 29 Ärzte. „In all den Jahren habe ich noch nie solche schrecklichen Bilder gesehen von Verletzungen, von Menschen auf den Fluren der Notaufnahme, Tote und Lebende Seite an Seite“, erklärte dem „Guardian“ der britische Kriegschirurg David Nott, der selbst in Aleppo operierte.

Auch die Teams der Weißhelme sind von dem Ausmaß der Verwüstung völlig überwältigt. Die letzte Hilfsstation der Retter wurde am Samstag dem Erdboden gleichgemacht. „Wir haben nicht mehr genug Leichensäcke“, erklärte einer der Helfer per Video. Mindestens hundert Menschen starben in den letzten Tagen, viele sind noch unter Trümmern verschüttet, andere an dem vom Regime eingesetzten Chlorgas erstickt.

„Diese Zerstörung lebenswichtiger Infrastruktur lässt die eingeschlossenen Menschen, darunter Kinder, alte Männer und Frauen, ohne jede medizinische Hilfe und überlässt sie dem Tod“, klagte die örtliche Gesundheitsbehörde in Aleppo in einem schriftlichen Notruf an die Welt. Die scheidende Sicherheitsberaterin im Weißen Haus, Susan Rice, verurteilte das russisch-syrische Vorgehen „auf das Schärfste“ und forderte die Angreifer auf, ihr Bombardement sofort einzustellen. UN-Syrienvermittler Staffan de Mistura, der zuvor Gespräche in der Türkei und im Iran geführt hatte, reiste am Sonntag zu dem syrischen Außenminister Walid al-Moallem nach Damaskus.

Bei dem Treffen schlug De Mistura vor, alle jihadistischen Kämpfer aus Aleppo zu evakuieren und dann den moderaten Aufständischen eine Art Selbstverwaltung zu gewähren, eine Idee, die das Regime rundheraus ablehnte.

„Wie kann es sein, dass die UN Terroristen belohnen wollen?“ empörte sich Moallem, dessen Regime alle Gegner ausnahmslos als Terroristen diffamiert. Keine Regierung der Welt werde sich auf so etwas einlassen. Russland und das Assad-Regime hatten Ende Oktober während der Schlussphase des amerikanischen Präsidentenwahlkampfes eine einseitige Feuerpause erklärt. Eine Woche nach dem Wahltag nahmen sie am vergangenen Dienstag ihre Luftangriffe wieder auf – brutaler denn je. Die beiden Kriegspartner kalkulieren, dass durch den Wechsel im Weißen Haus und an der Spitze der Vereinten Nationen sämtliche politische Initiativen zu Syrien bis zum Frühjahr auf Eis liegen, so dass sie in den kommenden drei Monaten auf dem Schlachtfeld in ihrem Sinne Fakten schaffen können. Vor allem eine Rückeroberung von Aleppo könnte die Schlagkraft der Rebellen entscheidend schwächen und den Machtanspruch des Regimes endgültig sichern.

Der blutige Konflikt, der weit über 300 000 Menschen das Leben gekostet und die Hälfte aller Syrer zu Flüchtlingen gemacht hat, dauert mit seinen nahezu sechs Jahren inzwischen länger als der Zweite Weltkrieg. Bei Donald Trump, der die Syrienpolitik seines Vorgängers Barack Obama im Wahlkampf scharf kritisierte, fehlen bisher die Konturen einer eigenen Nahost-Strategie. Auch der scheidende UN-Generalsekretär Ban Ki-moon wird nach Ansicht westlicher Diplomaten auf keine neuen Friedensverhandlungen mehr drängen, sondern dies seinem Nachfolger Antonio Guterres überlassen. In einem ersten Interview nach der US-Wahl umwarb Diktator Bashar al-Assad Trump als „natürlichen Verbündeten“ seines Regimes.

Für die eingeschlossenen Bewohner im Ostteil Aleppos dagegen ist eine apokalyptische Lage entstanden. Sie sollen durch Dauerbombardement und Hunger zur Kapitulation gezwungen werden.

Ein harter Winter steht bevor. Das Gesundheitswesen ist völlig kollabiert, die Lebensmittelvorräte sind bis auf wenige Reste aufgebraucht. In den nächsten Wochen werden wahrscheinlich die ersten Menschen an Hunger sterben oder erfrieren.

Syrian regime forces advance in Aleppo       -  Zerstörte Gebäude in Aleppo. Russland und das Assad-Regime schießen den umzingelten Ostteil der syrischen Stadt sturmreif.
Foto: dpa | Zerstörte Gebäude in Aleppo. Russland und das Assad-Regime schießen den umzingelten Ostteil der syrischen Stadt sturmreif.
 
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