Aufstände, Tote und Soldaten überall. Menschen fliehen, Nicaragua versinkt im Chaos. Gewaltsam geht der Präsident gegen das eigene Volk vor. Dann, endlich, fasst die Organisation Amerikanischer Staaten in Washington einen Beschluss: Das Regime soll abgelöst werden, die Menschenrechte sollen geachtet werden und freie Wahlen stattfinden. Es ist der 23. Juni 1979. Knapp drei Wochen später flieht der damalige Präsident Nicaraguas, Diktator Anastasio Somoza, nach Florida. Er hatte das Volk brutal unterdrückt. Die Macht übernimmt eine fünfköpfige Übergangsregierung. Die herausragende Figur ist ein 33-Jähriger: Daniel Ortega.
Sommer 2018: Hunderte Menschen kommen bei Protesten in Nicaragua ums Leben. Zehntausende haben das Land verlassen. Die meisten Richtung Costa Rica. Sie fliehen vor Gewalt, Unterdrückung und Chaos. Sie fliehen vor Daniel Ortega. Dem autoritären Präsidenten.
Der hatte das Land bereits von 1985 bis 1990 als Präsident regiert, seine Wiederwahl scheiterte an einer starken Opposition. 2006 kam er zurück und wurde zu einem der vielen linken Hoffnungsträger in Lateinamerika. Er reiht sich ein in eine Liste linker Staatsoberhäupter, die zu Beginn des Jahrtausends gewählt wurden. Darunter Brasiliens Luiz Inácio Lula da Silva (Präsidentschaft 2003 bis 2011), Néstor Kirchner (2003 bis 2007) und seine Frau Cristina (bis 2015) in Argentinien, Ricardo Lagos (2000 bis 2006) in Chile oder Hugo Chávez in Venezuela (1999 bis 2013), der den „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ ausrief.
Hoffnung auf eine gerechtere Welt
So unterschiedlich die Politiker und die Ursachen ihrer Wahlerfolge waren, sie alle schürten die Hoffnung der Menschen auf eine gerechtere Welt und umfassende Sozialreformen. Viele Lateinamerikaner hatten die Privatisierungen der 1980er und 90er Jahre satt. Sie litten unter Armut in rohstoffreichen Regionen.
Tatsächlich stiegen viele dank neuer Regierungsprogramme in die Mittelschicht auf: Der Rohstoffhandel boomte und endlich wurde die Bevölkerung daran beteiligt. Chávez, zum Beispiel, verteilte in Venezuela Ölgewinne an sein Volk. Doch dann war der Boom vorbei. Und die Weltfinanzkrise kam. Was Anfang der 2000er Jahre vielversprechend begann, stürzte viele sozialistische Länder in politische und wirtschaftliche Krisen.
Es folgten Massenproteste: 2012 gegen Cristina Kirchner in Argentinien, 2015 in Brasilien gegen die damalige Präsidentin Dilma Rousseff. Zurzeit gegen Chávez-Nachfolger Nicolás Maduro in Venezuela und Ortega in Nicaragua. Woran sind die linken Politiker gescheitert?
Export-Einnahmen nicht langfristig angelegt
In erster Linie an sich selbst, sagt Günther Maihold, stellvertretender Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik. Daran, die eigenen Möglichkeiten überschätzt zu haben. Man habe die Export-Einnahmen aus dem boomenden Rohstoffhandel nicht langfristig angelegt, sondern schnell verbraucht. Jetzt komme man über die Phase niedriger Rohstoffpreise nicht hinüber. Nur Chile habe einen Zukunftsfonds eingerichtet. Vielfach aber wirtschafteten Präsidenten in die eigene Tasche. Die Mittelschicht droht nun wieder in die Armut abzurutschen.
In vielen rohstoffreichen Ländern gehe das Problem auf die Kolonialzeit zurück, sagt Sabine Kurtenbach, Lateinamerika-Expertin beim German Institute of Global and Area Studies. Rohstoffe würden exportiert und woanders verarbeitet, nichts bleibe im Land. Das schaffe Abhängigkeit von Weltmarktpreisen und kaum Arbeitsplätze. Sie spricht von „generationeller Vererbung von Armut“, von Korruption und davon, dass Präsidenten demokratische Spielregeln aushebelten – zum Beispiel, um die eigene Amtszeit zu verlängern, wie Evo Morales in Bolivien. Oder indem sie Oppositionelle ins Gefängnis stecken, wie in Venezuela.
„Die Einigkeit, was danach kommen soll, fehlt“
Das Volk protestiert, vor allem die Jugend. Ob in Peru, Brasilien, Argentinien, Venezuela oder Nicaragua. Doch das Problem der Proteste sei, dass sie sich punktuell, aber alternativlos gegen ein Thema richteten, sagt Kurtenbach. In Nicaragua, zum Beispiel, fordere man den Rücktritt Ortegas, doch es gebe keinen Gegenentwurf. „Die Einigkeit, was danach kommen soll, fehlt“, erklärt sie. So hält sich die Familiendynastie Ortega (seine Frau ist Vizepräsidentin, seine Söhne kontrollieren TV-Sender) wohl vorerst an der Macht. Ähnlich wie 1979 habe man die politische Opposition durch Parteienverbote mundtot gemacht und so eine zivile Opposition heraufbeschworen, sagt Maihold.
Doch ob sie stark genug ist? Der Experte sieht kurzfristig keine Lösung, denn wenn Ortega aufgibt, „ist die ganze Familie weg vom Fenster“. Ein nationaler Dialog zwischen Regierung, Kirche, ziviler Opposition und Unternehmerverband scheint derzeit undenkbar.
Trump will 200 000 Einwanderer aus El Salvador zurückschicken
Bislang hat sich Nicaragua mit Öl und Geldern aus Venezuela am Leben gehalten. Brechen diese Quellen weg, wird es kritisch. Auch für El Salvador, das laut Maihold über Nicaragua mit Öl versorgt wird – und auf das 2020 eine weitere Herausforderung zukommen könnte: US-Präsident Donald Trump hat im Januar angekündigt, 200 000 Einwanderer aus El Salvador heimzuschicken. Ein Schock für das Land, das von deren Geldüberweisungen lebt. Die USA seien sich nicht im Klaren darüber, was sie in kleinen Ländern anrichteten, sagt Maihold. Auch in Nicaragua versuchten sie es nicht diplomatisch: „Die USA haben wie immer nur die Sanktionskiste.“ Ortega lässt sich bisher aber nicht unter Druck setzen, Maduro in Venezuela ebenso wenig. Die USA werden zum Feind erklärt. Dabei hätten sie den größten Hebel gegen Venezuela, sagt Kurtenbach. Sie bräuchten bloß kein Öl mehr zu kaufen.
Und Europa? Habe derzeit eigene Probleme, sagen die Lateinamerika-Experten. Die Region stehe nicht weit oben auf der politischen Agenda. Wie geht es nun also weiter mit dem ehemals „linken“ Kontinent? In Kolumbien ist mit Iván Duque seit Dienstag ein konservativer Politiker an der Macht. Auch Argentinien und Chile werden von Mauricio Macri beziehungsweise Sebastián Pinera erzkonservativ regiert. Brasilien wählt im Oktober. Kürzlich hat die linke Arbeiterpartei den inhaftierten linken Ex-Präsidenten Lula da Silva als Kandidaten präsentiert. Ob er antreten darf, ist fraglich. Er sitzt eine Haftstrafe wegen Korruption ab.