Helmut Kohl hätte sich wohl etwas anderes gewünscht. Vielleicht einen Aufmarsch junger Europäer aus den Ländern, für deren heutige Freiheit der verstorbene deutsche Kanzler gesorgt hat und deren Integration in die EU im Jahre 2004 ohne ihn undenkbar wäre. Oder eine Abordnung europäischer Bürger, die während der Trauerfeier an diesem Samstagmorgen in der Straßburger Innenstadt beim Shoppen unterwegs sind – und dabei mit der Währung bezahlen, die ihnen nicht zuletzt Helmut Kohl brachte: den Euro. Das wird es geben, später in Ludwigshafen und Speyer. Aber nicht hier, im Herzen Europas, in Straßburg. Außer einer Handvoll Besucher, die in diesem hermetisch abgeriegelten Stadtviertel rund um das EU-Parlament wirken, als hätten sie sich verlaufen, ist niemand da – abgesehen von weit über 1000 Polizisten und schwer bewaffneten Soldaten. Fast eineinhalb Stunden lang rasen die Wagenkolonnen von französischen Motorradpolizisten eskortiert durch leer gefegte Straßen.
Nein, Europa hält nicht den Atem an. In diesen zwei Stunden, in denen Weggefährten, politische Freunde und Widersacher Abschied nehmen, sich noch einmal erinnern, verneigt sich nicht die Welt. Aber viele, die die Welt prägten. Einen Staatsakt hatte Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker „ausgerufen“, als er – zusammen mit Kohls Witwe Maike Kohl-Richter – nach einer angemessenen Form der Würdigung für den verstorbenen 87-jährigen Kohl suchte. Den ersten in der über 60-jährigen Geschichte dieser Gemeinschaft. Doch er musste sofort zurückgepfiffen werden: Die EU sei kein Staat, brachten Junckers Mitarbeiter ihren Chef schonend bei, also könne sie auch keinen „Staatsakt“ ausrichten. Man deklarierte die Veranstaltung am Samstagvormittag zu einer europäischen Trauerfeier. Helmut Kohl hätte solche Wortklauberei gehasst – und mit einem Hinweis auf den „Mantel der Geschichte“ vom Tisch gewischt. Wichtiger noch: Es hätte wohl niemand zu widersprechen gewagt.
Erst am frühen Morgen war der Sarg von Ludwigshafen nach Straßburg gebracht worden. Wie dicht die Sicherheitskette rund um das EU-Parlament da schon gezogen worden war, bekommen die Begleiter zu spüren: „Wir sind die Sargträger, sie sollten uns durchlassen“, müssen sich sogar jene, die eine tragende Rolle haben, gegen die auf Perfektion bedachte französische Polizei durchsetzen.
Ob Staats- oder Regierungschef, amtierend oder längst auf dem Altenteil – für alle beginnt der Besuch gleich. Einzeln werden sie in ein Protokollzimmer geführt, wo sie sich von Kohl verabschieden können. Hier liegt keine deutsche, sondern eine Europafahne über dem Sarg. Abgeordnete der drei Waffengattungen des Wachbataillons der Bundeswehr halten die Ehrenwache. Nach einem Moment des Schweigens geleitet eine Art Zeremonienmeister die Gäste nach nebenan zum Eintrag in das Kondolenzbuch.
Und dann sitzen sie im weiten Rund des Europäischen Parlamentes – die Führer der Welt: Frankreichs früherer Staatspräsident Nicolas Sarkozy neben dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu, Spaniens pensionierter Monarch König Juan Carlos mit Frau Sophia neben dem Wiener Bundespräsidenten Alexander Van der Bellen. Der russische Regierungschef Dimitri Medwedjew und der frühere amerikanische Präsident Bill Clinton neben Europas junger Generation, verkörpert durch Frankreichs Staatsoberhaupt Emmanuel Macron.
Sie verabschieden nicht nur einen deutschen Bundeskanzler. „Ich nehme Abschied von einem treuen Freund, der mich über Jahrzehnte liebevoll begleitet hat. Hier spricht nicht der Kommissionspräsident, sondern ein Freund, der Kommissionspräsident wurde“, sagt Jean-Claude Juncker. Er habe bewegende Momente mit dem Kanzler geteilt. „Ich bin wahrscheinlich der Einzige in diesem Saal, der Helmut Kohl während einer Sitzung hat weinen sehen“, erzählt er. Im Dezember 1997 beschlossen die Staats- und Regierungschefs – darunter damals auch Juncker als luxemburgischer Premier – die große Erweiterung der EU nach Mittel- und Osteuropa, die 2004 verwirklicht wurde.
Mit „tränenerstickter Stimme“ habe Kohl damals gesprochen und gesagt, „dass dieser Tag des Auftaktes der Beitrittsverhandlungen zu den schönsten Momenten seines Lebens gehört“. Schließlich sei der deutsche Kanzler still geworden und habe minutenlang feuchte Augen gehabt: „Er war nicht der Einzige. Niemand hat sich seiner Tränen geschämt.“
Das tat auch Juncker nicht, als er zurückkehrte zu seinem Platz neben Witwe Maike Kohl-Richter, die mit Sonnenbrille und schwarzem Schleier verhüllt ihre behandschuhte Hand kurz auf seinen Arm legte.
Es seien zwei „extrem machtvolle“ Momente, mit denen Kohl Geschichte schrieb, sagt EU-Ratspräsident Donald Tusk an diesem Morgen. Tusk stammt aus Polen, einem der Länder, denen Kohl den Weg in die EU ebnete. „Wie Präsident Mitterrand und Kanzler Kohl in Verdun Hände hielten und wie sich Premierminister Mazowiecki und Kanzler Kohl zwei Tage nach dem Mauerfall in Krzy¿owa umarmten“. Diese Gesten „legten den Grundstein des modernen Europas“. Doch es gebe noch viel zu tun, ergänzte der russische Premierminister Dmitri Medwedjew: „Die Berliner Mauer ist gefallen.
Aber die Ideologie der Mauer besteht noch.“ Kohls Traum „einer gemeinsamen Heimstätte“ Europas, zu der auch die frühere Sowjetunion gehöre, sei weit entfernt. Die Verantwortung, „dieses Haus weiterzubauen, lastet auf unseren Schultern“.
Es ist viel vom Freund, vom deutschen Europäer, von dem Staatsmann die Rede. Aber es spricht wohl niemand so bewegend und zugleich liebevoll von dem Menschen Helmut Kohl wie der frühere amerikanische Präsident Bill Clinton. „Meine Frau Hillary denkt, ich mochte ihn, weil er noch mehr aß als ich“, sagt das Ex-Staatsoberhaupt. Dabei habe Kohl versucht, ihn dazu zu bringen, „Dinge zu essen, die ich wirklich nicht essen wollte“. Clinton erinnert an die Fragen, die damals die Alliierten beschäftigen: „Soll es nach dem Fall der Mauer ein wirklich vereintes Deutschland geben?“ Es sei Kohl Leidenschaft gewesen, die ihn überzeugte.
Clinton: „Ich liebe diesen Mann. Denn er hatte einen Appetit. Und der ging deutlich über das Essen hinaus. Er wollte eine Welt schaffen, in der niemand dominieren würde, eine Welt, in der Zusammenarbeit besser wäre als die Entscheidung individueller Diktatoren.“ Deswegen, so Clinton weiter, „sind wir heute all hier: Danke, dass du uns die Chance gegeben hast, an etwas teilzunehmen, das größer ist als wir selbst.“ „Schlaf gut, mein Freund“, gibt er seinem verstorbenen Freund Helmut mit. Tosender Applaus verschluckt die letzten Worte seine Rede. Als Clinton an dem Sarg vorbeigeht, salutiert er.
Und auch Bundeskanzlerin Angela Merkel gelingt eine ihrer besten Reden, ein mehrfacher Brückenschlag mit dem Mann, der ihr politischer Ziehvater war – „ohne Sie stünde ich heute nicht hier“ – und dem sie deshalb versprach: „Ihr Vermächtnis werden wir weitertragen.“ Sie ist die Einzige, die Kohls verstorbene erste Ehefrau Hannelore erwähnt. Und obwohl Merkel weiß, wie verbittert Kohls Frau Maike ihre Rede zu verhindern versucht hatte, erhebt sie sich nach ihrer Ansprache noch einmal, um der Witwe die Hand zu geben.
Eine Geste, die in der Trauer verbinden soll, aber Kohl-Richter bleibt sitzen.
Es ist diese private Unversöhnlichkeit, die einen Schatten auf alle Schwüre von Freundschaft und Größe wirft. Ex-US-Präsident Clinton bleibt der Einzige, der alle drei Angehörigen „Maike, Walter und Peter“ anspricht und mit Vornamen nennt. Doch auch er kann die Erinnerung an die bitteren Bilder des Kohl-Sohnes, der von der Witwe nicht zu ihrem kurz zuvor verstorbenen Vater gelassen wurde, nicht auslöschen. Vielleicht wollte auch Frankreichs Präsident Macron ein Symbol der Versöhnung setzen, als er auf Deutsch über das Europa von morgen sagt: „Es gibt keinen Grund zur Resignation – viel mehr zu realistischem Optimismus.“ Dann reicht er Maike Kohl-Richter die Hand und umarmt Merkel. Beide Frauen wissen, wie viel dem Altkanzler die deutsch-französische Freundschaft bedeutet hatte.