zurück
71 Leichen im Kühlwagen des Grauens
Nach der Todesfahrt: Die österreichische Polizei arbeitet intensiv an der Aufklärung des Flüchtlingsdramas. In ganz Europa werden die Forderungen immer lauter, härter gegen Schlepper vorzugehen. Doch wie das genau geschehen soll, ist unklar.
Dead refugees found in a truck in Austria       -  Lkw des Grauens: Für 71 Menschen wurde ein Lastwagen, der bei Budapest gestartet war, zur Todesfalle.
Foto: Hans Punz, dpa | Lkw des Grauens: Für 71 Menschen wurde ein Lastwagen, der bei Budapest gestartet war, zur Todesfalle.
reda
 |  aktualisiert: 28.08.2015 18:42 Uhr

Die internationale Flüchtlingstragödie ist endgültig im Herzen Europas angekommen. Nachdem in den vergangenen Monaten vor allem tote Flüchtlinge im Mittelmeer Entsetzen und intensive Diskussionen in der EU auslösten, hat das Drama in Österreich offenbart: Auch auf den Straßen in Mitteleuropa sind skrupellosen Schleppern ausgelieferte Menschen in höchster Gefahr. Die österreichische Regierung will nun in seltener Einmütigkeit den Kampf gegen Schleuser intensivieren.

Unmittelbar zuvor hatte das Ausmaß des Grauens an einer Autobahn in Österreich alle Befürchtungen übertroffen. 71 tote Menschen barg die Polizei aus einem auf dem Seitenstreifen abgestellten Lastwagen. Die gesamte Nacht zum Freitag waren etwa 20 Beamte im Einsatz. „Was ich da gesehen habe, war ganz schrecklich“, zitierte die österreichische Tageszeitung „Kurier“ einen Polizisten. „Es war ein Stapel lebloser Menschen.“ Ursprünglich waren die Behörden von 20 bis 50 Toten in dem 7,5 Tonnen schweren Lkw ausgegangen.

Die Ermittlungen werden die österreichischen Behörden wohl noch Tage und Wochen beschäftigen. Woher stammten die Menschen, wer waren sie? Wann kamen sie ums Leben? Und woran starben sie? Bislang sind noch einige Fragen offen.

Vermutlich seien die 59 Männer, acht Frauen und vier Kinder in dem Laderaum des Lastwagens erstickt, teilte der Polizeichef des Burgenlandes, Hans Peter Doskozil, mit. Die Untersuchungen liefen aber noch. Außerdem fanden sich in dem Wagen Dokumente, die darauf hindeuteten, dass zumindest einige der Flüchtlinge aus Syrien stammten.

Schnelle Fahndungsergebnisse

Bei der Suche nach den Verantwortlichen präsentierten die Behörden hingegen schnelle Ergebnisse. Noch am Donnerstag hatten österreichische und ungarische Ermittler eine Großfahndung eingeleitet. Nach bisherigen Erkenntnissen fuhr der Lastwagen am Mittwochmorgen südlich von Budapest los. Am Freitag nahmen die Ermittler nun den Halter des Lkw sowie zwei mutmaßliche Fahrer in Ungarn fest. Sie gehörten zum Umfeld eines ungarisch-bulgarischen Schlepperrings, sagte Doskozil. Sie seien jedoch nur die „untersten Ebenen“ organisierter Kriminalität. Dieser organisierten Kriminalität will die rot-schwarze Regierung in Wien nun den Kampf ansagen. Der sozialdemokratische Bundeskanzler Werner Faymann (SPÖ) kündigte ein entschlossenes Vorgehen an.

Den Lastwagen hat nach Angaben des ungarischen Kanzleramtsministers János Lázár ein rumänischer Staatsbürger in der südungarischen Stadt Kecskemét angemeldet. Das Fahrzeug war mit einem ungarischen Zollkennzeichen ausgestattet: Ein solches können nur ausländische Staatsbürger beantragen, und es gilt nur einen Monat lang. Die Laderaumwände des Lkws tragen das Logo und Aufschriften eines großen slowakischen Lebensmittelherstellers. Dieser hatte das Fahrzeug aber schon vor mehr als einem Jahr ausrangiert und verkauft. Ungarische Medien fanden zudem heraus, dass der Lastwagen seitdem mehrfach den Besitzer wechselte. Einer der letzten Eigentümer war offensichtlich eine ungarische Briefkastenfirma mit Niederlassung an einer Budapester Sammeladresse. Das Unternehmen soll aber schon seit Monaten bankrott sein. Als letzter Eigentümer gilt ein ukrainischer Staatsbürger.

Eine der Hauptrouten für Flüchtlinge

Österreich ist mittlerweile zu einem Flüchtlings-Schwerpunktland in Europa geworden. Mehr als 7500 Asylanträge verzeichnete das Innenministerium im Juni, 1700 waren es in dem Monat des Vorjahres. Bis Ende des Jahres erwartet die Regierung rund 80 000 Flüchtlinge. Hinzu kommen zahllose Menschen, die nicht in der Alpenrepublik bleiben, sondern die weiter nach Deutschland oder Skandinavien ziehen.

Die Route von Ungarn über das benachbarte Burgenland und weiter durch Österreich nach Westen gehört mittlerweile zu den Hauptflüchtlingsstrecken in Europa. Tausende seien dort unterwegs, sagte Doskozil. In den vergangenen Wochen kam es dabei unter anderem mehrmals zu Unfällen mit überfüllten Flüchtlingstransportern, die jedoch meist glimpflich ausgingen. Nicht nur deshalb sagte der Generalsekretär von Amnesty International in Österreich, Heinz Patzelt, die Toten seien fahrlässig in Kauf genommen worden.

Der Grenzzaun erhöht den Druck

In der nächsten Zeit rechnet die Alpenrepublik noch mit weiter steigenden Flüchtlingszahlen. „Der ungarische Grenzzaun ist da ein entscheidender Faktor“, sagte Doskozil. Viele Flüchtlinge versuchten demnach, noch vor der endgültigen Fertigstellung des Zauns nach Österreich und von dort auch weiter nach Deutschland oder Nordeuropa zu kommen.

„Wer stoppt den Wahnsinn?“, fragte am Freitag die österreichische Tageszeitung „Kurier“. Bundeskanzler Faymann kündigte an, den Druck auf jene Staaten erhöhen zu wollen, die sich gegen eine fairere Verteilung von Flüchtlingen innerhalb der EU zur Wehr setzen. Er forderte, Förderungen für Länder zurückzuhalten, die sich einer einheitlichen Lösung widersetzten, wie etwa die baltischen Staaten sowie Polen, Tschechien und die Slowakei. Kirchenvertreter in Österreich forderten hingegen Erstauffanglager am Rande von Krisenregionen außerhalb Europas sowie die Schaffung legaler Einreisemöglichkeiten für Flüchtlinge in die EU.

71 Leichen im Kühlwagen des Grauens
AUSTRIA CRIME REFUGEES DEAD       -  Burgenlands Polizeichef Hans Peter Doskozil
Foto: Roland Schlager, dpa | Burgenlands Polizeichef Hans Peter Doskozil
 
Themen & Autoren / Autorinnen
Amnesty International
Europäische Union
Generalsekretäre
Generalsekretäre von Parteien
Kanzleramtsminister
Leichen
Regierungen und Regierungseinrichtungen
Regierungen und Regierungseinrichtungen in Österreich
SPÖ
Südungarn
Tageszeitungen
Tote
Werner Faymann
Lädt

Damit Sie Schlagwörter zu "Meine Themen" hinzufügen können, müssen Sie sich anmelden.

Anmelden Jetzt registrieren

Das folgende Schlagwort zu „Meine Themen“ hinzufügen:

Sie haben bereits von 50 Themen gewählt

bearbeiten

Sie folgen diesem Thema bereits.

entfernen