Eigentlich, so sagt das Gefühl, müssten jetzt Tropfen von der Decke fallen – wäre sie nicht aus Kunstharz. Die Luft wirkt feucht, es riecht modrig, und die Augen müssen sich erst auf die Finsternis einstellen. Zu scharf ist der Kontrast zwischen dem Schummerlicht in der Höhle und dem sonnigen Frühlingstag in der südfranzösischen Ardeche-Region.
Nach einer kurzen Umgewöhnungszeit fällt der Blick auf Erstaunliches: Abdrücke von Bärentatzen und Fußspuren von Steinzeitmenschen sowie Gravuren und feine Tierzeichnungen in Schwarz, Orange und Ockerfarben. Voller Energie erscheinen die Abbildungen von animalischen Jagd- und Laufszenen mit Bisons, Löwen, Panthern oder Pferden, die zwar noch recht frisch aufgetragen sind. Doch ihre Originale haben einen kaum vorstellbar langen Zeitraum überdauert: fast 36 000 Jahre.
Damals kamen Menschen in die Höhle von Chauvet im Flusstal der Ardeche, um die Wände zu bemalen. Weil deren Eingang in der Folge durch einen Einsturz von Felsen verschlossen wurde, blieben die Werke bis zu ihrer zufälligen Entdeckung vor 20 Jahren erhalten, ebenso wie die Spuren und Knochenreste von Höhlenbären und teilweise längst ausgestorbenen Tierarten.
Wenn Wissenschaftler diesen Ort bei der Gemeinde Vallon Pont d'Arc beschreiben, suchen sie nach Superlativen. „Es handelt sich um ein beeindruckendes Juwel, um die ältesten Zeugnisse menschlicher Kunst“, schwärmt Jean-Michel Geneste, Direktor des Nationalen Zentrums für Urgeschichte, der das wissenschaftliche Team zur Erforschung der Grotte leitet. Nur wenige Spezialisten dürfen das unterirdische Areal betreten, um dort zu arbeiten. Für alle anderen entstand gut einen Kilometer vom historischen Fundort entfernt eine künstliche Höhle mit dem Namen Caverne du Pont d'Arc als detailgetreue Replik. Frankreichs Präsident François Hollande hat sie bereits eingeweiht, und wenn sie am 25. April auch offiziell eröffnet, ermöglicht sie der breiten Öffentlichkeit eine Zeitreise in eine prähistorische Welt – in der Menschen bereits das Bedürfnis hatten, Kunst zu schaffen. Und die Fähigkeiten sowieso.
„Die künstliche Grotte gleicht der echten sehr stark“, versichert Geneste. „Wir haben sogar Forscherkollegen genarrt, indem wir ihnen Fotos aus beiden vorlegten und sie raten ließen, welche woher stammen: Es ist unmöglich, den Unterschied zu erkennen.“ Zwar misst die Kopie mit einer Fläche von 3000 Quadratkilometern nur gut ein Drittel vom Original. „Aber es ging uns nicht so sehr um die exakte Nachbildung eines jeden Zentimeters, sondern vor allem um diese besondere Höhlen-Atmosphäre.“ Deshalb wird die Temperatur konstant auf 13 Grad gehalten und unter Mithilfe von Experten für Akustik, Licht und Geruch eine Stimmung geschaffen, die dem Besucher das Gefühl vermittelt, in einer modrigen Tropfsteinhöhle zu sein, von deren Decke es gleich tropfen wird. Wer sich mitreißen lässt und vergisst, dass sie eigentlich gerade einmal zwei Jahre alt ist, für den ist die Illusion perfekt. „Es war unser Ziel, allen diese einzigartige Überraschung zu ermöglichen“, sagt der Abgeordnete Pascal Terrasse, der dem 55 Millionen Euro teuren Großprojekt vorsteht. „Wir sind stolz darauf, dass diese in technologischer, künstlerischer und wissenschaftlicher Hinsicht verrückte Idee endlich Wirklichkeit wird.“
Tatsächlich handelt es sich bei der Caverne du Pont d'Arc um die weltweit größte Nachbildung einer Original-Höhle. Hinter ihr steht die jahrelange Arbeit von Forschern verschiedenster Disziplinen. Und diese ist längst nicht abgeschlossen, sagt der Paläontologe Michel Fosse, der weiterhin regelmäßig in die Ursprungsgrotte steigt, bekleidet mit einem Schutzanzug und Spezialschuhen, um möglichst wenige Spuren zu hinterlassen. Für ihn handle es sich um ein Ausnahmeprojekt, sagt der Wissenschaftler. „Es ist fesselnd und frustrierend zugleich. Bei archäologischen Ausgrabungen ist man daran gewöhnt, Gegenstände im Labor analysieren zu können. Hier muss alles an Ort und Stelle bleiben. Die Bedingungen sind nicht einfach, aber das macht die Arbeit umso interessanter.“
Der Zugang zum Original ist streng reglementiert: Keinesfalls wollte man die Fehler wiederholen, die bei der Höhle von Lascaux im Südwesten Frankreichs gemacht wurden, die ebenfalls prähistorische Malereien aufweist. Nur acht Jahre nach ihrer Entdeckung 1940 wurde sie für die Allgemeinheit geöffnet. Für die Besucherströme senkte man den Boden ab, baute eine Treppe und eine Bronzetüre ein, die das Höhlenklima schützen sollte. Dennoch beschädigte die ständig eintretende Luft die Wandmalereien erheblich, führte zu Schimmelbildung und Pilzbefall. 1963 musste die Höhle von Lascaux wieder geschlossen werden, und 20 Jahre später eröffnete eine Nachbildung für die Öffentlichkeit. Doch trotz eines aufwendigen Belüftungs- und Klimaregulierungssystems ist das Original dauerhaft beeinträchtigt. Schwarzer Schimmel blieb auf den Abbildungen, die bis zu 18 000 Jahre zurückdatiert wurden und damit lange Zeit als die ältesten bekannten Malereien der Menschheitsgeschichte gegolten hatten.
Umso größer war die Sensation, als drei Höhlenforscher am 18. Dezember 1994 auf die Höhle bei Vallon Pont d'Arc stießen, unter ihnen der spätere Namensgeber Jean-Marie Chauvet. In vielerlei Hinsicht handelte es sich um einen Ausnahmefund: Aufgrund des Alters der Höhle und ihrer Dimensionen, der guten Erhaltung der Fresken, Zeichnungen und Reliefs und ihres künstlerischen Reichtums: Fast 1000 Malereien zieren die Wände, darunter 425 detaillierte Darstellungen von 14 verschiedenen Tierarten – auch vom Mammut und dem Rhinozeros, von denen nur sehr wenige Abbildungen erhalten sind. Im vergangenen Juni nahm die Unesco die Chauvet-Grotte in ihr Weltkulturerbe auf.
Er konnte es zunächst kaum fassen, berichtet Jean Clottes. Das französische Kultusministerium schickte den Spezialisten für Höhlenmalereien in der Altsteinzeit im Dezember 1994 in die Ardeche, um die Echtheit der Abbildungen festzustellen. „Ich war der einzige Gast im Hotel kurz nach Weihnachten und kann ihnen sagen, meine Frau war nicht gerade begeistert, dass ich die Feiertage schwänzte“, schmunzelt der 81-Jährige über die Aktion. Die sich gelohnt habe angesichts des Schatzes, der sich vor ihm auftat, als er mühsam durch den schmalen Eingang in die Höhle kroch. Jahrtausende sind die Fresken alt – und wirken doch erstaunlich modern, frisch, sehr präzise. Ihm war schnell bewusst, dass er vor herausragenden Kunstwerken stand, sagt Jean Clottes. „Sie zu erblicken, erfüllte und erfüllt mich mit großer Emotion.“
Es folgte die Erforschung der Höhle durch ein wissenschaftliches Team aus Geologen, Biologen, Kartografen und Paläntologen, das nicht nur die Malereien unter die Lupe nahm, sondern auch Spuren von Menschen und Tieren entdeckte, Knochen- und Schädelreste sowie Feuerstein und Holzkohle, deren Analyse bei der Datierung half.
Mühsam einigten sich die Akteure aus der Region, Politik und Wissenschaft auf die Rekonstruktion, um die Höhle einem breiten Publikum zugänglich zu machen. „Wir wollten keinen Freizeitpark schaffen, sondern ein echtes kulturelles und didaktisches Vorzeigeprojekt“, sagt der Präsident der Region Rhônes-Alpes, Jean-Jack Queyranne. Mithilfe von Laser- und 3-D-Technik, 6000 digitalen Fotos und der Verwendung von Kunstharz, Lehm und Beton entstand die Kopie in einem futuristisch anmutenden Bau. In akkurater Kleinstarbeit wurden die Malereien per Hand und mit den gleichen Hilfsmitteln wie bei den frühzeitlichen Künstlern, nämlich mit Ocker, Asche und Holzkohle, fertiggestellt. An den Gang durch die Nachbildung der Höhle, der an zehn Stationen vorbeiführt, schließt sich der durch das angegliederte Museum an, das steinzeitliche Tiere in Originalgröße darstellt und Hintergrundinformationen liefert.
Doch bei all der Forschungsarbeit bleiben auch viele Fragezeichen, sagt Carole Fritz, Spezialistin für Höhlenmalerei. „Man darf nicht vergessen, dass wir im Müll der Menschen von damals wühlen, der unser einziger Anhaltspunkt ist.“ Diese hätten ein ganz anderes Verhältnis zur Natur gehabt, und wenn die Malereien einen religiösen Hintergrund hatten, dann nicht im heutigen Sinn. „Ein Stück Mysterium bleibt bestehen. Und das ist das Faszinierende.“
Nachbildung der Chauvet-Höhle
Am 25. April öffnet die Caverne du Pont d'Arc. Die Nachbildung der Chauvet-Höhle wurde erbaut, um die Konservierung der 36 000 Jahre alten Malereien und Gravuren zu gewährleisten. Im Juni 2014 nahm die Unesco die Chauvet-Grotte in das Weltkulturerbe auf. Sie liegt gut einen Kilometer von der Replik entfernt in der Nähe der südfranzösischen Gemeinde Vallon Pont d'Arc, 60 Kilometer südwestlich von Montélimar. Die Caverne du Pont d'Arc wird täglich geöffnet sein: In den Monaten Februar, März, Oktober und bis zum 14. November zwischen 10 und 18 Uhr, ab 15. November bis einschließlich Januar von 10 bis 17 Uhr, in den Monaten April, Mai, Juni und September von 10 bis 19 Uhr und im Juli und August von 9 bis 20.30 Uhr. Es werden geführte Besichtigungen in deutscher Sprache angeboten.
Weitere Informationen: www.cavernedupontdarc.fr