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MÜNCHEN
200 Jahre Oktoberfest
Tradition und Wahnsinn: Wie die Münchner Wiesn vom Hochzeitsfest mit Pferderennen zu einem globalen Ereignis wurde – und warum ihre Anziehungskraft trotz Touristeninvasion, kommerzieller Auswüchse und teurer Trachtenmode ungebrochen ist.
Von unserem Münchner Korrespondenten Henry Stern
 |  aktualisiert: 18.09.2010 14:13 Uhr

Wäre die Wiesn ein lebendiges Wesen, man müsste sie sich wohl als typische Münchnerin in den besten Jahren vorstellen. Zurückhaltung gehört nicht gerade zu ihren Stärken. Sie ist laut, manchmal ein bisschen zu stark geschminkt und versteht es mit ihrer direkten Art, Menschen jeden Alters und jeder Herkunft im Handumdrehen für sich einzunehmen. Sie kaschiert ihre städtische Herkunft in den letzten Jahren zunehmend mit immer teurerer Trachtenmode. Sie kann es sich leisten, denn so schnell, wie sie durch ihre Geschäftstüchtigkeit ihrer Heimatstadt die Euro-Millionen zuschaufelt, kann die das Geld gar nicht wieder zum Fenster rausschmeißen.


Sie zeigt sich gerne mit Promis und manchmal sogar mit echten Prominenten – und erträgt dabei auch geduldig die in München unvermeidlichen „Adabeis“. Sie konnte immer auch gut mit den Mächtigen, hat sich von ihnen aber nie vereinnahmen lassen. Sie hat es weit gebracht und zeigt das gerne und ohne falsche Bescheidenheit. Trotzdem ist sie eine aus dem Volk geblieben. Mehr Giesing als Grünwald, wenn man so will.

200 Jahre wird die Wiesn in diesem Jahr alt. Viel ist passiert, seit das Oktoberfest aus Anlass der Hochzeit des Kronprinzen Ludwig I. mit Prinzessin Therese von Sachsen-Hildburghausen am 12. Oktober 1810 zum ersten Mal gefeiert wurde. Und mit den Zeiten hat sich auch das Oktoberfest gewandelt: In den Anfangsjahren war ein Pferderennen die Hauptattraktion – neben einer landwirtschaftlichen Leistungsschau, die als „Zentral-Landwirtschaftsfest“ heute noch alle vier Jahre stattfindet.

Erst Ende des 19. Jahrhundert beginnt die erste Blütezeit der Bierhallen und Schaustellergeschäfte: Immer größere Bierzelte werden in einem Ring hinter dem Königszelt aufgebaut. In seiner Größe unerreicht bleibt etwa das Bräurosl-Zelt von 1913, das 12 000 Besuchern Platz bot – selbst heute haben die großen Zelte maximal 9000 Plätze. Beflügelt von der Elektrifizierung, erleben auch die Fahrgeschäfte in dieser Zeit eine rasante Entwicklung. Und die „Stimmungsmusik“ in den Zelten wird – da umsatzfördernd – populär. Dass das noch heute gebräuchliche „Ein Prosit der Gemütlichkeit – Oans, zwoa, gsuffa“ von einem sächsischen Kirchenlieder-Komponisten namens Bernhard Dittrich stammt, macht dabei gar nichts. Der Münchner, auf dem Oktoberfest zumal, sonnte sich schon immer gerne in seiner kosmopolitischen Gesinnung.

Nach der Zwangspause des Ersten Weltkrieges und den Wirren der Jahre danach gründete sich zur Wiederbelebung des Festes gar ein „Verein zur Erhaltung des Oktoberfestes“. Schließlich war mit dem Ende der Monarchie dem Fest sein ursprünglicher Anlass verloren gegangen. Sehr schnell zeigte sich aber, dass man auch ohne Grund und ohne Monarchen trefflich feiern kann.

Die heutige Struktur mit einer Wirtsbuden- und einer Schaustellerstraße bekam das Oktoberfest erst 1930. Und auch viele längst unverzichtbare Wiesn-Höhepunkte sind deutlich jünger als das Fest selbst: Das zum Medienereignis gewordene Anzapfen des ersten Fasses Wiesn-Bier durch den Münchner Oberbürgermeister etwa wurde erst 1950 durch den damaligen OB Thomas Wimmer erfunden. Heute ist die Anzahl der Schläge, die der OB bis zum Ausruf „Ozapft is“ braucht, immer eine Meldung wert – und das Anzapfen selbst auch eine Machtdemonstration des zumeist von der SPD regierten München im von der CSU dominierten Bayern: Schließlich muss der Ministerpräsident als schmückendes Beiwerk so lange warten, bis ihm der OB die erste frisch gezapfte Wiesn-Maß reicht.

Auch der feierliche Einzug der Wiesn-Wirte sowie der Trachten- und Schützenzug durch die Münchner Innenstadt am ersten Oktoberfest-Sonntag gehören erst seit den 1950er Jahren zum alljährlichen Ritual.

Und heute? Die alte Dame Oktoberfest ist längst zu etwas geworden, was man Neu-Deutsch wohl ein „Mega-Event“ nennt. Das Fernsehen berichtet täglich live, die Wiesn-Pressestelle betreute im vergangenen Jahr mehr als 3600 Journalisten aus aller Welt. Bei einer weltweiten Umfrage der deutschen Tourismuszentrale nach den bekanntesten deutschen Begriffen landete „Oktoberfest“ mit 91 Prozent Bekanntheit an der Spitze – vor Kindergarten, Goethe und Bratwurst.

Manchmal scheint die enorme Popularität dem Fest fast die Luft abzuschnüren. So sind inzwischen nicht nur an den Wochenenden viele Zelte schon am Nachmittag wegen Überfüllung geschlossen. Und der Ausnahmezustand hat sich vom Festgelände längst in die gesamte Innenstadt ausgebreitet – von mit italienischen Wohnmobilen zugeparkten Straßen bis zu den unzähligen „After-Wiesn-Partys“ in den Clubs und Kneipen der Stadt. Einen eigenen Begriff gibt es dafür auch schon: „Wiesn-Wahnsinn“.

Aber das Granteln über das Oktoberfest gehört wohl zu München wie das Hofbräuhaus und der FC Bayern. Denn die Faszination ist ungebrochen: Das Publikum in den Zelten ist sogar deutlich jünger geworden, seit dort statt zum „Donauwalzer“ zu schunkeln aus 6000 Kehlen „Who the fuck is Alice“ oder „Viva Bavaria“ mitgegrölt wird. Und während vor 20 Jahren nur ältere Leute oder Bauernburschen aus dem Oberland in Dirndl und Lederhosen auf die Wiesn gingen, kann sich heute kaum noch ein Besucher dem Trachtenwahn entziehen.

Im Kern ist die Wiesn dennoch ein Fest der Münchner geblieben: Knapp drei Viertel der stabil über sechs Millionen Besucher kommen aus München und Bayern. Die Stadt als Veranstalter stemmt sich zudem beharrlich gegen kommerzielle Auswüchse und pflegt die Traditionen – vom Flohzirkus bis zum herrlich langweiligen Karussell „Krinoline“ – mit echter Blasmusik in der Mitte.

Wahrscheinlich ist es genau diese Mischung aus Tradition und Wahnsinn, die den Erfolg des Oktoberfestes letztlich ausmacht. Und so könnte man den Wiesn-Hit von Wolfgang Petri durchaus auch als Liebeserklärung an die Wiesn verstehen: „Du bist der Wahnsinn, warum schickst du mich in die Hölle – Hölle, Hölle, Hölle. . .“

200 Jahre Oktoberfest

Die Wiesn findet vom 18. September bis 4. Oktober statt. Zum Jubiläum gibt es am Südende der Theresienwiese für vier Euro Eintritt ein „historisches Spektakel“ mit alten Fahrgeschäften, einem Bierzelt im Stil des 19. Jahrhunderts, einem Museumszelt sowie Pferderennen auf einer eigens angelegten Rennbahn. Im Stadtmuseum am Jakobsplatz gibt es zudem bis 31. Oktober die Ausstellung „Das Oktoberfest 1810 - 2010“ – mit einem lesenswerten Begleitbuch, aus dem viele der historischen Fakten auf dieser Seite stammen.

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