Angela Merkel hat ein Buch gelesen. Es war das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“, der aus einer französischen Tageszeitung berichtete, dass die Bundeskanzlerin bei der jüngsten Zusammenkunft der europäischen Staats- und Regierungschefs ihren Kollegen nicht etwa einen schönen Abend gewünscht, sondern auf eine der wohl interessantesten Neuerscheinungen des vergangenen Jahres hingewiesen hatte: „Die Schlafwandler“.
Der sich aufdrängende Kalauer, dass es sich dabei nicht um den Koalitionsvertrag, das Motto der Brüsseler Kommission oder eine sonstige Selbstbeschreibung des politischen Betriebs handelt, verbietet sich eigentlich, wenn, ja wenn die Sache nicht so ernst wäre, wenn es im Grunde eben nicht genau darum ginge: Wie schnell das vermeintlich Unvorstellbare eintreten, ein komplexes System durch politische Fehl- bzw. Nichtentscheidungen zusammenbrechen kann – und es dann zur Katastrophe kommt.
Die Katastrophe, das ist in diesem Fall der Ausbruch des Ersten Weltkriegs im August 1914. Jener Krieg, in dem 65 Millionen Soldaten kämpften, drei Reiche untergingen, 21 Millionen Menschen verwundet wurden und bis zu 20 Millionen starben. Jener Krieg, mit dem Europa seine Unschuld (wenn es sie denn je besaß) verlor und ein Jahrhundert des Schreckens, der Totalitarismen und des Terrors einleitete. Der „Große Krieg“ eben, wie er in Frankreich und England immer noch genannt wird.
Großer Krieg, großes Gedenken? Alleine die Zahlen sprächen ja eigentlich für sich. Doch wie es mit historischen Jahrestagen oftmals so ist – von den Nachgeborenen werden sie nicht selten als bloße Pflichtübungen begriffen, Schulausflug, Sonntagsreden und Kranzabwurf inklusive.
Dass das in diesem Jahr anders werden könnte, liegt nicht nur an der merkwürdigen Begebenheit, dass sich im September auch noch der Ausbruch des Folgekriegs, nämlich des Zweiten Weltkrieges zum 75. Mal jährt und im November mit dem 25-jährigen Jubiläum des Mauerfalls schließlich des Verschwindens der Kriegs-Spätfolgen gedacht wird, mit anderen Worten: dass in diesem Gedenkjahr ein ganzes Jahrhundert verdichtet ist. Es liegt auch an einem Buch. „Die Schlafwandler“ also, Autor: Christopher Clark, Untertitel: „Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog“ (DVA, 896 S., 39,99 Euro).
Die These: Es gibt Parallelen zwischen damals und heute, zwischen 1914 und 2014, zwischen Europa am Abgrund und Europa am Abgrund. Parallelen, die selbst die (ost)deutsche, immerhin an Marx und dessen Diktum, Geschichte wiederhole sich nicht, geschulte Kanzlerin ernst zu nehmen scheint.
Der australische Historiker – für sein Werk zur Geschichte Preußens 2010 übrigens als erster nicht- deutschsprachiger Wissenschaftler mit dem Preis des Historischen Kollegs ausgezeichnet – räumt in seinem behutsam formulierten Vorwort mit der Vorstellung auf, dass das alles ja in einer anderen Epoche passiert und längst vorbei sei, dass die damaligen „Akteure, wenn sie schon buschige, grüne Straußenfedern auf ihren Hüten trugen, auch entsprechende Gedanken und Motive gehabt haben mussten“, spricht gar von „Zeitgenossenschaft“ und rückt die damaligen Geschehnisse radikal an uns Gegenwärtige heran – einfach, indem er sie in ihrer ganzen Komplexität, oder weniger vor- nehm ausgedrückt: Verworrenheit, schildert.
Das hat nebenbei die Folge, dass sich für ihn die Frage nach der (allei- nigen) Schuld, die Clark so nicht auf deutscher Seite sieht und wofür er hierzulande wochenlang gefeiert wurde, erst gar nicht stellt – alleine, weil er sich mehr für das „wie“ als das „warum“ interessiert. Wie also konnte es zu dieser Katastrophe kommen? Und was hat das alles mit der Gegenwart zu tun?
Die Ausgangslagen ähneln sich jedenfalls frappierend: Eine international, durch zahlreiche Verträge und vor allem Wirtschaftsbeziehungen verflochtene, globalisierte Welt, deren Verwundbarkeit wiederum bei einer weltweiten Finanz- und Bankenkrise rasch sichtbar wurde. In der Folge zunehmende nationale Egoismen und Regierungen, die auf nicht zuletzt durch die Medien verstärkte, teilweise auch angeheizte innenpolitische Stimmungen Rücksicht nehmen mussten. Dazu: Verschiebungen im Großmachtgefüge, grenzüberschreitender Terrorismus, rasender Fortschritt, ein gewisser Zivilisationsüberdruss – von welcher Epoche ist hier die Rede? Aber ist es so einfach? Kann man Geschichte einer Schablone gleich über die Gegenwart legen?
Kann man das vergleichen: Damals die ebenso expansive wie sinnlose Flottenpolitik des wilheminischen Reichs, heute der erste Flugzeugträger der Chinesen, der vor kurzem im Inselstreit mit Japan ausrückte? Die industrielle Revolution mit der digitalen? Oder den Wiener Börsencrash von 1873, der darauf folgende Ruin zahlreicher Geldinstitute rund um den Globus, heute die Immobilien-, Banken- und Eurokrise der letzten Jahre? Und falls ja, wo stünden wir dann: schon mitten in der sogenannten Julikrise, oder müssen die Schüsse von Sarajevo erst noch fallen?
Das Attentat serbischer Terroristen auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand vom 28. Juni 1914 wurde lange Zeit jedenfalls lediglich als „Anlass“, mithin also als Vorwand für das Deutsche Reich und die Habsburger Doppelmonarchie, nicht als Auslöser des Ersten Weltkriegs angesehen. Es war aber ohne Zweifel der Funke, der etwas in Gang setzte, was sich auf dem Balkan mit dem dort aufkeimenden Nationalismus in Folge des Niedergangs des osmanischen Reiches längst abzeichnete: die Kollision der Interessen mehrerer Großmächte.
Doch selbst während der hektischen Julitage, als zahlreiche Diplomaten zwischen den europäischen Großstädten hin- und herpendelten, wäre die Tragödie noch zu vermeiden gewesen. So aber kam es zu einem katastrophalen Mechanismus: Deutschland unterstützte Österreich, das seine Interessen gegen Serbien verteidigte, Russland als selbsternannte Schutzmacht der Slawen machte mobil, woraufhin Deutschland in Folge des Schlieffenplans das mit den Russen verbündete Frankreich angriff, um einen Zweifrontenkrieg zu vermeiden, daraufhin England wegen der Verletzung der belgischen Neutralität durch Deutschland diesem den Krieg erklärte und so weiter . . . Das große Schlachten begann, und das wohlgemerkt nur, weil jeder Akteur seine vermeintlich ganz natürlichen Interessen zu vertreten meinte und ein Rädchen ins andere griff.
„Der Ausbruch des Weltkrieges, mit dem mein bewusstes Leben wie mit einem Paukenschlag einsetzt, traf mich, wie er die meisten Europäer traf: in den Sommerferien.“ So steht es ziemlich am Anfang von Sebastian Haffners „Geschichte eines Deutschen“, und dieses plötzliche Ende eines letzten, europäischen Sommers ist längst sprichwörtlich geworden. Haffner, der die Kriegsjahre mit der Naivität eines Kindes und wie ein Fußballspiel verfolgte, spricht rückblickend von der Plötzlichkeit des Krieges, anderen, vielen Künstlern und Intellektuellen zumal, konnte es hingegen gar nicht schnell genug gehen – ein erstaunliches Phänomen, das in ganz Europa anzutreffen war.
„Wir wollen den Krieg verherrlichen – diese einzige Hygiene der Welt – den Militarismus, den Patriotismus, die Vernichtungstat der Anarchisten, die schönen Ideen, für die man stirbt“, so heißt es im vielleicht berühmtesten Manifest der Kunstgeschichte, nämlich dem des Futurismus, jener maschinentrunkenen italienischen Avantgarde (auch das ja ein Begriff aus dem Militärischen), die sich damit radikal vom zivilisationsmüden Ästhetizismus und der Décadence der Jahrhundertwende absetzte.
Diese irrationale Sehnsucht nach einer alles umwälzenden, reinigenden Tat formulierte auch Franz Marc noch in einem Brief von der Front (an der er 1916 in der Nähe von Verdun schließlich fiel): „Mein Herz ist dem Krieg nicht böse, sondern aus tiefem Herzen dankbar, es gab keinen anderen Durchgang zur Zeit des Geistes.“
Der Münchner Maler war damit nicht allein: Im Oktober 1914 veröffentlichten 93 bekannte deutsche Wissenschaftler, Künstler und Schriftsteller einen Aufruf, in dem sie Krieg und Militarismus verteidigten, „ohne den die deutsche Kultur schon längst vom Erdboden ge- tilgt“ wäre. Eine Tonart, die übrigens auch Thomas Mann anstimmte: „Deutschtum, das ist Kultur, Seele, Freiheit, Kunst und nicht Zivilisation, Gesellschaft, Stimmrecht, Lite- ratur.“
In einer Replik von H.G. Wells fiel denn auch das Wort vom „Conflict of cultures“, eine Wendung, die einem heute wieder seltsam vertraut vorkommt. Damals aber, wenige Jahre und viele Millionen Tote später, war es mit der Kriegsbegeisterung erstmal vorbei. „Zu jubeln ziemt nicht: kein triumf wird sein / Nur viele untergänge ohne würde“ heißt es in Stefan Georges Gedicht „Der Krieg“ von 1917 – 22 Jahre vor dem nächsten, von Europa ausgehenden Weltenbrand.
Können wir also überhaupt aus Geschichte lernen? Das Problem ist vielleicht, dass Geschichte viel mit Geschichten zu tun hat, mit Narrativen, in die eingewoben jeder seine eigene Perspektive hat – und damit auch seine Wahrheit der Wahrnehmung. Laut Clark ist das denn auch ein Merkmal der damaligen Akteure, die objektiv und mit Abstand be- trachtet gewiss paranoid handelten, für sich genommen aber vielleicht durchaus nachvollziehbar. Und das ist es letztlich, was einem Angst machen kann und das Ganze so aktuell.
Wir sollten also Angela Merkels Empfehlung folgen, dieses Buch lesen – und uns stets daran erinnern, wie fragil und verletzlich so ein Sommer ist.